„Manchmal haue ich schnell was raus, aber nie leichtsinnig“
Erstveröffentlichung am 22.06.2024 im Spiegel Ausgabe Nr. 26 und auf Spiegel.de am 28.06.2024. Das Interview führten Christoph Schult und Severin Weiland.
SPIEGEL: Frau Göring-Eckardt, wie lange denken Sie nach, bevor Sie etwas auf dem Kurznachrichtendienst X veröffentlichen?
Göring-Eckardt: Das ist unterschiedlich. Manchmal überlege ich sehr genau. Manchmal haue ich schnell was raus, aber nie leichtsinnig.
SPIEGEL: Kürzlich schrieben Sie auf X über die deutsche Fußball-Nationalmannschaft: »Diese Mannschaft ist wirklich großartig. Stellt euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler.« Es folgte ein Aufschrei. Viele warfen Ihnen vor, auch das sei Rassismus, nur eben aus der anderen Richtung. Waren Sie überrascht?
„Ich war schockiert über die Umfrage, wonach sich 21 Prozent der Deutschen mehr weiße Fußballspieler in der Nationalmannschaft wünschen.“
Göring-Eckardt: Ja, war ich. Ich hatte vorher die ARD-Fußball-Dokumentation »Einigkeit und Recht und Vielfalt« gesehen und war wirklich schockiert über die Umfrage, wonach sich 21 Prozent der Deutschen mehr weiße Fußballspieler in der Nationalmannschaft wünschen. Ich war mir sicher, dass die meisten diesen Kontext kannten.
SPIEGEL: Warum haben Sie den Tweet gelöscht?
Göring-Eckardt: Nach dem Spiel und dem Tweet bin ich spazieren gegangen – ohne mein Handy. Als ich zurückkam, gab es bereits 7500 Kommentare. Was mich bewogen hat, den Tweet zu löschen, waren Menschen, die selbst von Rassismus betroffen sind und gesagt haben: Das geht jetzt in die falsche Richtung. Das waren Leute, die mir nicht Rassismus unterstellen wollten, sie fanden einfach die Tonlage verkehrt.
SPIEGEL: Haben Sie mit Ihrem Tweet nicht genau den 21 Prozent Futter gegeben, die sich mehr Weiße in der Nationalmannschaft wünschen?
Göring-Eckardt: Ich finde, unsere Nationalelf ist sehr gut, genau wie sie ist. Die Hautfarbe darf niemals und nirgendwo eine Rolle spielen – übrigens egal, ob der Elfmeter reingeht oder daneben. Die 21 Prozent, die das anders sehen, brauchen von mir eh kein Futter. Wenn man sich aktuelle Studien anschaut, weiß man, um ein Beispiel zu nennen, dass ungefähr ein so großer Anteil der ostdeutschen Bevölkerung ausländerfeindlich ist. Politiker sagen gern, in unserer Gesellschaft habe Rassismus keinen Platz, aber leider haben Rassismus und Menschenfeindlichkeit bei uns eben doch Platz. Viele Menschen, die nicht weiß sind, sind jeden Tag damit konfrontiert, dass das eine Rolle spielt. Das betrifft nicht nur Fußballspieler, sondern Kinder in der Schule, in der Kita, Menschen auf der Straße. Jüdinnen und Juden erleben Antisemitismus.
„Politiker sagen gern, in unserer Gesellschaft habe Rassismus keinen Platz, aber leider haben Rassismus und Menschenfeindlichkeit bei uns eben doch Platz.“
SPIEGEL: Vizekanzler Robert Habeck hat sich vor längerer Zeit von X verabschiedet. Haben Sie darüber auch mal nachgedacht?
Göring-Eckardt: Ja. Immer wieder. Und immer wieder habe ich mich dagegen entschieden, weil ich diese Plattform nicht den Trollen und Rechten überlassen möchte.
SPIEGEL: Wie deuten Sie die Reaktionen auf Ihren Tweet – als Kritik an Ihrer Person oder als Kritik an grüner Ideologie?
Göring-Eckardt: Ich war zweimal Spitzenkandidatin, ich war Fraktionsvorsitzende. Das sind ja alles Ämter, in denen ich auch als Grüne spreche. Aber es hat auch mit mir als Person zu tun. Ich bin eine Frau, ich bin aus dem Osten. Und ja, ich rede auch öffentlich darüber, dass ich Christin bin. Manche werfen mir deshalb vor, ich würde moralisch argumentieren.
SPIEGEL: Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mit einem Satz zum Thema Migration eine Debatte entfachen. In der Flüchtlingskrise 2015 sagten Sie: »Unser Land wird sich ändern und ich freue mich darauf.« Stehen Sie noch dazu?
Göring-Eckardt: Ja. Politisch ging es damals um die Frage, dass wir dringend Fachkräfte benötigen. Persönlich hatte meine Äußerung auch etwas mit meiner Biographie zu tun. So sehr ich verstehe, dass für manche Veränderungen Stress bedeuten, für mich hat sich mit der friedlichen Revolution 1989 in der DDR alles geändert: Freiheit, Demokratie, viele Möglichkeiten. Das war für mich positiv besetzt und ist es bis heute. Es ist komplett absurd, mir diesen Satz vorzuhalten, nach dem Motto: Sie freut sich, wenn Zugewanderte bei uns kriminell werden. Das ist der Versuch, eine Politikerin zu beschädigen und einen Menschen kaputt zu machen. Es gibt noch einen zweiten Satz…
SPIEGEL: »Jetzt bekommen wir auf einmal Menschen geschenkt.«
Göring-Eckardt: Auch der wurde aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe ihn auf der Synode der Evangelischen Kirche gesagt. Als Christin empfinde ich Menschen als Geschenk, ja, natürlich. Ich habe damals in derselben Wortmeldung gesagt, dass wir auf die vielen Geflüchteten nicht gut vorbereitet sind, dass uns Lehrkräfte und Kitaplätze fehlen. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir Probleme haben, aber nicht die Menschen daran schuld sind, sondern die Strukturen. Wir brauchen in der Migrationspolitik Humanität und Ordnung, das ist kein Widerspruch.
SPIEGEL: »Humanität und Ordnung« haben die Grünen auch im Europawahlkampf plakatiert, sie haben trotzdem massiv verloren: an die CDU und ins Lager der Nichtwähler. Offensichtlich hat dieser Versuch, beide Positionen zu besetzen, nicht funktioniert.
Göring-Eckardt: Ich glaube nicht, dass wir bei der Europawahl für unsere Plakate zur Migrationspolitik abgestraft wurden.
SPIEGEL: Sind die Grünen nicht auch selbst schuld daran, dass sie in der Debatte um mehr Ordnung bei der Migration als Bremser dastehen?
„Wir wehren uns gegen den Populismus von politischen Wettbewerbern, die suggerieren, eine einzelne Maßnahme wie Abschiebungen könnte die Probleme lösen.“
Göring-Eckardt: Man sollte ja immer zuerst die Fehler bei sich selbst suchen. Aber bei der Migrationspolitik ist es ein falsches Klischee, die Grünen als Bremser hinzustellen. Wir haben sehr früh klar gemacht, dass es Ordnung braucht, Registrierung an den Außengrenzen, Verteilung. Ich habe mich für klare Kontingente ausgesprochen, damit Kommunen planen können und die Finanzierung steht. Wir haben die Reform der EU-Asylreform mitgetragen, obwohl das sehr schwer fiel. Wir sagen schon seit Langem, dass Abschiebungen ein Instrument sind, wenn die freiwillige Rückkehr nicht funktioniert, wir unterstützen Migrationspartnerschaften mit Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien. Aber wir wehren uns gegen den Populismus von politischen Wettbewerbern, die suggerieren, eine einzelne Maßnahme wie Abschiebungen könnte die Probleme lösen.
SPIEGEL: Nach dem Messerattentat eines Afghanen in Mannheim haben die Grünen erst mal erklärt, warum Abschiebungen nach Afghanistan nicht funktionieren. Macht Ihre Partei es sich manchmal zu einfach?
Göring-Eckardt: Ich bin dafür, Straftäter abzuschieben.
SPIEGEL: Auch nach Afghanistan?
Göring-Eckardt: Wenn es praktisch, politisch und rechtlich geht, auch nach Afghanistan, ja. Nachdem sie ihre Strafe in einem deutschen Gefängnis verbüßt haben, natürlich.
SPIEGEL: Ein zentrales Argument der Grünen war bislang moralisch: Sollten wir die Taliban diplomatisch aufwerten?
Göring-Eckardt: Deutschland darf sich nicht von Terroristen erpressen lassen. Und: Es muss praktisch funktionieren und Probleme wirklich lösen. Auch das ist Teil von »wenn es geht«. Der Täter in Mannheim galt nicht als Gefährder. Der war nicht mal auffällig geworden.
SPIEGEL: Welche Lehren ziehen Sie aus dem schlechten Abschneiden der Grünen bei der Europawahl?
„Wir denken Politik zu wenig von den ländlichen Räumen her.“
Göring-Eckardt: Wir denken Politik zu wenig von den ländlichen Räumen her. Außerdem müssen wir mehr darauf achten, was die Menschen eigentlich im Alltag umtreibt. Wir Grünen glauben oft, dass die Leute schon verstehen, was auf dem Spiel steht, wenn wir zum Beispiel über den Klimaschutz reden. Aber offenbar hat das nicht funktioniert.
SPIEGEL: Was meinen Sie konkret?
Göring-Eckardt: Wir müssen uns fragen: Was machen diese Klimaveränderungen mit Menschen in der Stadt, auf dem Land? In den Städten ist es für viele zu heiß und mittlerweile gesundheitsgefährdend für Alte, für Kinder. In den ländlichen Räumen gibt es Dürre, Ernteausfälle, Wasserknappheit. Wir müssen in den nächsten Monaten mit so vielen Menschen wie möglich sprechen. Und zwar richtig. Nicht in Floskeln, sondern richtig sprechen, von Mensch zu Mensch, auf Augenhöhe und nicht von oben von der Bühne herab. Das ist eine Voraussetzung dafür, damit es in diesen aufgeheizten, aggressiven Zeiten überhaupt gelingen kann, über Politik zu reden.
SPIEGEL: Die Grünen stehen bei vielen im Verdacht, den Menschen Vorschriften machen zu wollen. Wie wollen Sie da ins Gespräch kommen?
Göring-Eckardt: Wir müssen offen sein. Die andere Person könnte auch recht haben, die andere Person könnte ein Thema haben, an das wir nicht gedacht haben, etwa bei dem Gesetz, dessen Name nicht genannt werden soll….
SPIEGEL: …dem Heizungsgesetz, das viele als Übergriff empfunden haben.
„Wenn dieses Gesetz seinen normalen Gang gegangen und nicht schon in der Entwurfsphase durchgestochen worden wäre, dann wäre vieles anders gelaufen.“
Göring-Eckardt : Wenn dieses Gesetz seinen normalen Gang gegangen und nicht schon in der Entwurfsphase durchgestochen worden wäre, dann wäre vieles anders gelaufen. Mittlerweile hat es der Bundestag beschlossen, aber die allerwenigsten wissen, was da wirklich drin steht. Kaum jemand weiß, wie sehr auf Menschen mit wenig Geld Rücksicht genommen wurde.
SPIEGEL: Für die Union und manche in der FDP sind die Grünen an vielen Missständen in diesem Land schuld.
Göring-Eckardt: Natürlich ist es für viele sehr bequem, alles bei den Grünen abzuladen. Manche machen das auf der großen Bühne, andere in kleinen Runden. Nehmen wir die Union. Während Friedrich Merz immerhin inzwischen einen freundlicheren Ton anschlägt, haut Herr Söder bei jeder Gelegenheit drauf. Was glaubt er eigentlich, was er damit für ein gesellschaftliches Klima schafft? Das hilft doch nur den Populisten.
SPIEGEL: Aus der Union wurde jetzt das Bürgergeld für ukrainische Flüchtlinge in Frage gestellt, auch aus der FDP kommen kritische Töne. Werden sich die Grünen Änderungen verweigern?
Göring-Eckardt: Ich finde diese Debatte wirklich abgründig. Die Union hat der Regelung zugestimmt, als hunderttausende Geflüchtete in Folge des russischen Angriffs zu uns kamen. Damals wollten auch CDU und CSU, dass diese Menschen Bürgergeld bekommen und möglichst sofort arbeiten, statt unnötigen Aufwand mit Verfahren zu betreiben. Ja, viele arbeiten noch immer nicht, aber das hängt auch damit zusammen, dass viele Frauen mit kleinen Kindern kamen und es oft Probleme mit der Anerkennung ukrainischer Abschlüsse gibt.
SPIEGEL: CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hat gefordert, nicht arbeitende Ukrainer in die Heimat zurückzuschicken.
Göring-Eckart: Da kann ich ihm nur empfehlen, sich mal diese Warn-App herunter zu laden, in der die Luftalarme in der Ukraine angezeigt werden, auch in der angeblich sicheren West-Ukraine. Was Alexander Dobrindt sagt, hat nichts mit der Realität zu tun. Ich verstehe nicht, dass Teile der Union Wahlkampf auf dem Rücken der Ukrainer machen. Auf dem Rücken jenes Landes, das auch für unsere Sicherheit kämpft.
SPIEGEL: Eine Erzählung lautet, Ukrainer würden das Bürgergeld beziehen und damit wieder zurück in die Heimat fahren.
Göring-Eckardt: Ich kenne vor allem Ukrainer, die für zwei, drei Wochen im Jahr zurückfahren. Das sind meist Frauen, die ihre Männer besuchen, zum Beispiel in der Kampfpause von der Front. Wahrscheinlich gibt es auch Einzelne, die das Bürgergeld ausnutzen. Aber es spaltet unsere Gesellschaft, wenn man deswegen die große Mehrheit diffamiert.
SPIEGEL: Bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September drohen den Grünen die nächsten Niederlagen. Was heißt das für die Bundestagswahl im nächsten Jahr?
Göring-Eckardt: Wir müssen zunächst dafür kämpfen, dass wir in allen drei Landtagen vertreten sind. Ich halte das auch für realistisch. In meiner Heimat Thüringen müssen wir zum Ergebnis der Europawahl ungefähr 15.000 Stimmen dazugewinnen, das ist zu schaffen. Die hatten wir schon einmal. Wir müssen deutlich machen: Ohne uns wird es in den Landtagen keine Klima- und Naturschutzpolitik geben. Thüringen ist das erste Bundesland, in dem jedes Windrad der Kommune Geld einbringt. Dafür sorgt das Windenergie-Beteiligungsgesetz. Das heißt konkret: Acht Windräder sichern den Betrieb des Schwimmbades oder zwei Windräder die Sanierung der Schultoilette.
SPIEGEL: Sollten die Grünen zur Bundestagswahl stärker auf ihre Kernklientel setzen, statt Volkspartei zu spielen?
„Es gibt allen Grund, unverzagt für eine bessere Welt und ein menschenverträgliches Klima zu arbeiten.“
Göring-Eckardt: Wir sollten nicht versuchen, das eine gegen das andere auszuspielen. Wir sind eine kleine Volkspartei, eine Partei der Mitte, und eine Partei der Mitte hat die Aufgabe, Gegensätze auszuhalten oder auch auszutragen. Wir haben immer wieder Fehler gemacht, aber wir haben aus den Fehlern gelernt. Darin sind wir, glaube ich, ziemlich gut. Deshalb muss bei uns niemand verdruckst rumlaufen nach so einem Wahlergebnis. Aber zeigen, dass wir verstanden haben. Es gibt allen Grund, unverzagt für eine bessere Welt und ein menschenverträgliches Klima zu arbeiten.
SPIEGEL: Wer wäre aus Ihrer Sicht der bessere Spitzenkandidat für die Grünen – Robert Habeck oder Annalena Baerbock?
Göring-Eckardt: Beide können es, und das ist auch gut so.