Bibelarbeit auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag
Es geht heute um Josef. Nicht der Mann von Maria, sondern der andere Josef, der aus dem Ersten Testament. Dort, im Ersten Testament, heißt Gott oft „Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“. In diese Sippe gehört auch Josef: Abraham ist sein Uropa, Isaak sein Opa und Jakob ist sein Vater.
Aber Josef ist nicht nur Sohn. Josef ist auch Politiker. Vizeregierungschef in Ägypten. Pharao hat ihn zu so einer Art Landwirtschaftsminister gemacht, weil er die Sache mit den sieben fetten Jahren und den sieben mageren Jahren nicht nur Eins-A vorhersagen konnte, sondern auch smarte Ideen hatte, wie man das managen kann. Als Politikerin muss ich deshalb immer etwas achtgeben, was ich von Josef erzähle.
Aber gottseidank Josef ist nicht nur Sohn und nicht nur Politiker, er ist auch Bruder. Papa Jakob hat nämlich insgesamt zwölf Söhne. Und damit kommen wir langsam zum Pudelkern dieser Geschichte. Wer Geschwister hat, der weiß: Das kann mitunter haarraufend, gemeingefährlich und vor allem biografieprägend sein.
Bei Josef ging das so: Papa Jakob wollte eigentlich seine große Liebe Rahel heiraten. Die bekam er aber nur, wenn er außerdem ihre Schwester Lea ehelichte. Zwei Ehefrauen, eine gewollt, die andere nicht. Konflikt vorprogrammiert. Und dann auch noch das: Lea bekam Nachwuchs, Rahel nicht. Konflikt verschärft. Beide nahmen ihre Mägde als Leihmütter zur Hilfe. Der Konflikt wird immer unübersichtlicher. Und am Ende hatte Jakob zwölf Söhne von vier Frauen.
Niemand wird wundern: Die Konkurrenz zwischen den Müttern vererbte sich auf die Söhne. Jakob zeigt sich als überforderter Patchwork-Papa und heizt den Konflikt auch noch fröhlich an, indem er Josef und seinen Bruder Benjamin bevorzugt, weil sie die Söhne Rahels, seiner großen Liebe sind. Lieblingsfilius Josef macht sich unbeliebt, weil er dem Papa petzt, wenn die Brüder sich daneben benehmen. Und Papa Jakob schenkt Josef auch noch nen bunten Fummel, während die Brüder Schafhirten-Ponchos tragen. Josef träumt ein wenig größenwahnsinnig, dass all seine Brüder (und sogar die Eltern) sich ihm unterwerfen und er Chef der Mischpoke ist. Und erzählt es der Sippe auch noch stolz und brühwarm.
Kein Wunder, dass die Brüder auf Rache sinnen. Die erstbeste Gelegenheit findet sich schnell: Während die Brüder für den Papa den ganzen Tag Herden hüten müssen, soll Josef nur kurz als Supervisor einfliegen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Brüder meucheln ihn zwar nicht, wie zuerst erwogen, aber sie verkaufen ihn als Sklaven an den nächstbesten dahergelaufenen fliegenden Händler. Papa bringen sie ein blutverschmiertes Stück von Josefs buntem Fummel und erzählen, er sei tot. Vater Jakob ist außer sich und erklärt nun Benjamin, den zweiten Sprößling seiner Lieblingsfrau Rahel zum Lieblingsfilius. Ein Problem beseitigt, steht gleich das nächste auf der Matte. Für Josef aber ist die Erfahrung traumatisch: Eben noch der Primus der Familie, auf einmal allein im gottlosen Ausland. Man kann sich, ihr Lieben, die Einsamkeit kaum vorstellen, die grundstürzende Unsicherheit, wenn sich mit einem Mal alles ändert. Ohne Vorwarnung. Die Krise kommt aus dem engsten Feld und es gibt kein Rettendes, alle Anker sind weg, die Wurzeln gekappt. Vielleicht kennt ihr das auch, aus anderen oder ähnlichen Zusammenhängen.
Seine weitere Karriere im Zeitraffer: Als Sklave verkauft. Im Haus des hohen Beamten Potifar zuerst zum Vertrauensmann aufgestiegen, später in Ungnade gefallen. Im Gefängnis schlägt Josef sich schlecht und recht als Traumdeuter durch. Doch schließlich hilft ihm das, als nämlich niemand die Träume des Pharao deuten kann. Josef kann: die Sache mit den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Pharao ist so begeistert, dass er ihn zum Krisenmanager erhebt, damit er in den sieben Jahren die Rekordernte einsacken kann, um sie in den sieben Jahren Hungersnot für gutes Geld an alle Welt zu verkaufen. Geschäftstüchtig. Und wenn man davon absieht, dass Joseph seinen Vater, die Heimat vermissen wird, fast schon Happy End.
Die Hungersnot der sieben mageren Jahre allerdings ist‘s, die Josefs Familie wieder zusammenführt. Papa Jakob schickt die Jungs nach Ägypten. Josef erkennt die Brüder, sie ihn aber nicht. Er dreht den Spieß um und das nächste Kapitel des Brüderzwists nimmt seinen Lauf: Josef bezichtigt die Brüder der Spionage, später des Diebstahls. Zu Unrecht. Die Streitspirale windet sich.
Erst danach gibt Josef sich zu erkennen und holt die ganze Mischpoke nach Ägypten. Die Sache geht ein paar Jahre gut, und – Spoiler!: Jakobs Familie wird dort zu dem großen Volk Israel, das Mose später spektakulär aus den Fängen eines Nachfolgers des amtierenden Pharao retten wird. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. Aber nachdem Papa Jakob zufrieden und hochbetagt gestorben ist, sind die Brüder sich plötzlich doch nicht mehr so sicher, ob der familiäre Burgfrieden hält. Und damit willkommen in der finalen Episode der Josef-Novelle:
Der Text: 1. Mose/Genesis 50,15–21
In der Übersetzung für den Kirchentag Nürnberg 2023
15 Josefs Brüdern wurde bewusst, dass ihr Vater tot war. Sie sagten: „Wenn Josef uns feindlich gesinnt ist, dann wird er uns bestimmt all das Böse heimzahlen, das wir ihm zugefügt haben.“
16 Da befahlen sie, Josef zu sagen: „Dein Vater hat uns auf dem Sterbebett befohlen, 17 sagt dies zu Josef: ‚Ach, vergib doch deinen Brüdern das Verbrechen und ihre Verfehlungen. Ja, sie haben dir Böses zugefügt.‘ Jetzt aber vergib doch das Verbrechen denen, die der Gottheit deines Vaters dienen.“ 18 Und Josef weinte über ihre Worte.
Nun gingen auch seine Brüder hin, fielen vor ihm nieder und sagten: „Hier hast du uns, als deine Sklaven.“ 19 Doch Josef sagte zu ihnen: „Habt keine Angst. Bin ich etwa an Gottes Stelle? 20 Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten, um zu tun, was sich heute zeigt: Ein großes Volk bleibt am Leben. 21 Jetzt aber habt keine Angst, ich selbst versorge euch und eure Kinder.“ So tröstete er sie und redete ihnen zu Herzen.
In der Lutherübersetzung klingt der Schluss noch einmal anders, deswegen auch noch einmal in dieser Übersetzung:
(…) 18Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Mit den Narben leben – und tun, was jetzt am Tage ist
Man kann die ganze Josef-Geschichte und mit ihr diesen Text am Ende, den wir heute besprechen, unter der Frage lesen: Wie zum Teufel, nein, besser: Wie in Gottes Namen kommen wir klar mit dieser Konfliktgeschichte? Wie können wir alle – Josef, die Brüder – leben, überleben mit – trotz des Unrechts, des Bösen, der traumatischen Erfahrungen, die wir uns gegenseitig zugefügt haben?
Mitten im Text steht ein unscheinbarer Satz, der mich berührt hat. Dort steht: Josef weint. Da steht etwas zur Debatte, das ihn wirklich aufwühlt. Das ihn nicht kalt lässt, auch nach all den Jahren nicht. Auch jetzt, wo es ein paar Jahre ganz gut gelaufen ist, die ganze Familie wiedervereint mit auskömmlichem Wohlstand und ohne neuen Streit. Aber die Wunden sind tief.
Dasselbe Bild bei den Brüdern: Auch sie wissen sehr genau um die Narben und um die Schmerzen, die sie sehr real verursachen und die mitnichten ein Phantom sind. Sonst würden sie ja nicht zu Josef geschlichen kommen und die Sache von sich aus wieder zum Thema machen, obwohl dafür vordergründig gar kein Anlass besteht.
Was sie ihm vorschlagen, ist so eine Art Schlussstrich: Vergib uns doch, was wir dir angetan haben. Ach ja, und übrigens: Papa Jakob wollte das auch. Was wir ihnen zugutehalten können: Zum ersten Mal in der ganzen Geschichte, jedenfalls so weit sie die Bibel aufzeichnet, reden sie hier Tacheles. Sie sagen was das Böse ist. Ein Verbrechen. Sie bekennen sich mithin zugleich schuldig.
Was sie Joseph aber vorschlagen: Vergebung, darauf geht Josef nicht ein. An dieser Stelle lohnt ein genauerer Blick darauf, was im hebräischen Wort mitschwingt und was wir mit unserer Übersetzung nur teilweise erfassen können. Nasa, so heißt das Wort, das im Hebräischen an der Stelle steht, wo in unserer Übersetzung vergeben steht. Nasa heißt aufheben, hochheben, tragen und ertragen. Dann würde die Bitte der Brüder also lauten: „Hebe doch unser Verbrechen auf!“, also: mach es ungeschehen, zieh einen Schlussstrich, irgendwann muss auch mal gut sein. Oder sogar: „Trage du doch unser Verbrechen“, und man müsste wohl ergänzen: Trage du es an unserer statt. Ent-schulde uns. Das ist schon ein starkes Stück. Das Opfer soll nun auch noch anstelle der Täter die Last der Schuld auf sich nehmen?.
Bin ich denn an Gottes Stelle?, antwortet Josef. Was für ein hintergründiger Move! Was Josef damit nämlich macht, ist: Er hebt ihre Schuld tatsächlich auf eine Weise auf, besser noch: er hebt sie hoch – auch das bedeutet ja nasa – um sie sozusagen weiterzureichen, und zwar an die Stelle, wo sie hingehört: an Gott. Ist es nicht Gott allein, der uns Menschen unsere Schuld wirklich von den Schultern nehmen kann? Ist Vergebung, wenn man sie so als Aufheben, als Von-den-Schultern-Nehmen versteht, nicht tatsächlich weniger des Menschen und viel mehr – oder sogar: einzig und allein – Gottes Sache? Müssten nicht insbesondere wir Christinnen und Christen heftig nickend zustimmen, die wir uns auf Christus berufen, der als Unschuldiger unsere Schuld ans Kreuz getragen und damit ein für alle Mal auf-gehoben hat?
Nein, Josef hat eine bessere Idee. Eine, die Gott lässt, was Gottes ist und in der der Mensch tut, was des Menschen ist. Sie lautet kurz gefasst: Wir müssen mit den Narben leben und können sie nicht ungeschehen machen. Mit den eigenen Narben und mit denen der von uns Versehrten. Das ist aber kein Grund, nicht jetzt! zu tun, was jetzt am Tage ist. Und etwas länger erklärt klingt das so: Josef wiederholt – und bekräftigt damit – noch einmal, was die Brüder endlich ausgesprochen, benannt und bekannt haben: Ihr habt mir Böses angetan. Das bleibt stehen und wird nicht zurückgenommen. Anerkennen, was ist.
Aber: ich kann, ich werde damit leben. Denn: Gott hat es umgerechnet, gewendet zum Guten. Da steht nicht: Gott hat alles gut gemacht. Josef nimmt Gott nicht leichtfertig als Eia-Popeia-Ist-doch-nicht-so-schlimm-Ist-schon-wieder-gut-Gott in Anspruch. Gott ist für Josef nicht die Antwort auf alle Fragen, die meistens in etwa so lautet: Im Lichte Gottes betrachtet ist dein Schmerz kaum der Rede wert. Eine Antwort wie ein Pflaster, das nicht auf die Wunde, sondern über den Mund geklebt wird, damit die geschundene Seele nicht so laut schreien kann. Doch das wäre letztlich billiger Trost oder billige Gnade.
Wofür Josef Gott sehr wohl in Anspruch nimmt, ist die große Perspektive, biblisch gesprochen: Die Verheißungsgeschichte. Gott gedachte es gut zu machen, und zwar warum? um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. Das ist die ganz große Perspektive. In einem Satz die ganze Geschichte Gottes mit seinem Volk.
Dietrich Bonhoeffer sagt: Des Menschen Sache und Verantwortung ist es, im Vorletzten auf das Letzte hin zu leben. Wobei das Letzte ganz Gottes Sache bleibt. Der Mensch dagegen darf nicht nur, er muss geradezu im Vorletzten seine Schritte auf den Weg des Letzten richten, sein Tun vom Letzten inspirieren und leiten lassen. Wir dürfen aber ebenso wenig Letztes und Vorletztes verwechseln, vermischen oder vermengen. Oft genug neigen wir ja dazu, wenn wir es eilig haben oder es zu schwer wird, dann werden wir größenwahnsinnig, mancher gar populistisch, dann verzwecken wir Gott und beten um schönes Wetter oder dass er doch die Krise, der wir gerade stecken, bitteschön lösen möge. So läuft die Sache aber nicht. Da hätten wir das Gott gedachte es gut zu machen vereinfacht. Missverstanden. Der Mensch bleibt ganz im Vorletzten, in all seiner Unerlöstheit, mit all seinen Narben.
So. und was machen wir jetzt damit? Heute? Drei Ideen habe ich dabei. Ja, jetzt wird es anstrengend. Aber deswegen, Ihr Lieben, heißt es ja auch Bibel ARBEIT.
1. Im Blick auf das große Ganze
Die Menschheit und die Mitgeschöpfe. Auch das ist eine nicht ganz unkomplizierte, von Kränkungen und Verletzungen gesäumte, viel-folgige Familien-Geschichte. Franz von Assisi hat wohl als Erster von Bruder Sonne, Schwester Wasser und Mutter Erde gesprochen. Stand heute könnte man sagen: Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Nein, eigentlich steht es schlimmer: Geschwister und Mutter Erde müssten längst ins Frauenhaus flüchten, so wie der Mensch mit ihnen umgeht. Die Natur ist in die Sklaverei verkauft worden. Und wie in der Josefsgeschichte beginnt auch dieser Konflikt nicht erst mit uns als aktuell letzter Generation, sondern steckt uns schon seit Generationen in den Knochen.
Die Narben, die bleiben, sind oft unübersehbar: Die Krater, die die Tagebaue bei Lützerath, aber auch im mitteldeutschen Braunkohlerevier in die Erde gerissen haben, sind klaffend. Die Menschheit hat damit unwiderruflich in Landschaft und Böden eingegriffen. Darüber können auch die schönsten und ambitioniertesten Renaturierungsmaßnahmen nicht hinweg täuschen. Umrechnung zum Guten? Geht das? Vor ein paar Jahren dachte man noch, die Löcher füllen wir mit Wasser, dann fahren wir mit dem Kahn oder dem Surfbrett drauf rum und freuen uns des Lebens. Heute ist das nicht mehr so einfach, denn Wasserknappheit macht diese Sache schwierig. Die ganze fossile Katastrophe lässt sich nicht zum Guten wenden. Und ob die Großeltern noch stolz vom Bergbau erzählen können, dürfte sehr fraglich sein. Schwerste Arbeit, die zugleich Umwelt und Gesundheit zerstört haben, über Jahrzehnte und Jahrhunderte, damit wir anzünden, was da unten lag, um Wohlstand herzustellen. Man muss sich das ja so vorstellen: über Jahrmillionen hat die Natur gelegt, verdichtet, verpresst. Und wenn man in die Grube heute reinschaut, dann darf man sich fragen: wo ist das tonnenschwere Material denn jetzt? Die Antwort ist ganz einfach: Über uns. Treibhausgase werden in Tonnen gemessen, weil sie tonnenschwer sind. Wie auf Erden so im Himmel – wenn man die bekannte Redewendung einmal umdreht. Und einfach gesprochen – alles, was wir jetzt noch verfeuern, fällt uns später wieder auf die Füße. Dasselbe Bild in der Arktis, wo der Eisschild unwiderruflich schmilzt, weil schon erste Kipppunkte überschritten sind. Wir können nicht mehr alle Folgen der Klimakrise aufhalten. Wo früher Gletscher glitzerten, bleibt ein Geröllfeld zurück. Erst Anfang der Woche kam eine neue Studie heraus, nach der schon in den 2030er Jahren die Arktis praktisch eisfrei sein könnte, zehn Jahre früher als bisher angenommen. Die außer Kontrolle geratenen Waldbrände in Kanada haben dafür gesorgt, dass über New York unter eine dichte Rauchwolke hing. Die Narben sind unübersehbar und nicht mehr alle heilbar. Es heißt, dass schon heute sieben von acht Grenzen der Belastbarkeit des Planeten überschritten sind. Das Artenaussterben oder die Erderwärmung lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Jede vierte Art ist bedroht. Ja, und auch diese unangenehme Stechmücke wird gebraucht im Kreislauf der Natur. Auch wenn sie inzwischen auch in unseren Breiten durch die Erwärmung in weitaus krasseren Formen vorkommt. Unsichtbare Narben hinterlässt das Aussterben, weil etwas fehlt. Der Phantomschmerz aber, den sie verursachen, ist real.
Das Ausbeutungsverhältnis ist in diesem Fall relativ einseitig. Dennoch tragen beide Seiten Narben davon. Denn die Menschheit ist von der Natur abhängig. Es ist nicht nur Klimaschutz oder Naturschutz, wovon wir reden sollten. Nein: das, was wir da tun, ist Menschenschutz. Gibt es kaum noch Bienen, funktioniert die Bestäubung nicht mehr, gibt es Ernteausfälle, werden Lebensmittel teurer, leiden Menschen Hunger. Steigt der Meeresspiegel, gehen ganze Inseln und Landstriche unter, Tuvalu, Kiribati, die Malediven, verlieren Menschen ihre Heimat. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird bis Ende des Jahrhunderts rund ein Drittel der Menschheit in eigentlich unbewohnbaren Zonen leben. Das heißt, sie könnten Probleme beim Zugang zu Süßwasser haben und eine geringe Ernährungssicherheit, weil viele Erntepflanzen und Nutztiere auf dieses Klima ausgerichtet sind. Umrechnen zum Guten? Nun, so einfach wird das nicht sein, wenn wir weder Sicherheit und gesundes Leben zusichern können, noch dass es gerecht zugeht. Ich bin ehrlich: manchmal denke ich, bei – nennen wir sie – politischen Mitbewerbern geht es nach dem Motto: jedenfalls ein paar, die reich genug sind, können sich Anpassung kaufen, leben wie im Science fiction unter eine Haube, in der das Gras grün, die Luft sauber ist und der Vogelgesang täuschend echt aus der Konserve kommt. Immer mehr Menschen, vor allem jüngere, fragen sich also: Wie werde ich mit den zunehmenden Hitzewellen klarkommen? Werde ich von Verteilungskämpfen betroffen sein? Wie wird das Leben aussehen, das mich erwartet? Psychologische Narben, als „Klimaangst“ bekannt, sind nicht wegzudiskutieren. Sie sind real. Ich weiß nicht, ob sich das zum „Guten umrechnen“ lässt. Was ich weiß: wir können dem nicht ausweichen, nicht in der Wirklichkeit, nicht in der Seele, nicht wenn wir an unsere Kinder denken. Nicht ausweichen, das heißt auch: nicht weich machen, nicht weg reden. Können wir dennoch Hoffnung haben? Hier heute bestimmt, denn es sind lauter verständige Menschen unter uns. Reicht die Kraft? Nun, wir könnten unsere Narben zeigen und sagen: schaut nur, wie schlimm es war. Gott, den ich mir nur in dieser einen Sekunde als eine alte weiße Frau auf der Wolke vorstelle, würde verständig nicken und sagen: Und? Deine Narben sind doch kein Schmuckstück, keine Ausrede. Ich hab dir auch die Zuversicht geschenkt: Nicht damit du denkst, es wird schon alles gut, sondern damit du tust, was dran ist. Ich glaube aber doch!, heißt es im Psalm 27.
Auch wenn klar ist: Wir können schon jetzt nicht mehr jede Folge der Klimakrise abwenden. Aber: nicht mit jeder Narbe, die uns droht, werden wir leben können. Wir werden uns eben nicht an jede Folge der Klimakrise anpassen können. Schon gar nicht als gesamte Menschheitsfamilie. Deshalb gilt: Jedes Zehntelgrad Erderwärmung, das wir verhindern können, zählt. Und, um einmal Tacheles zu reden: das macht man weder vom Sofa aus, in dem man Noten für die Performance verteilt, noch vom Redepult aus, in dem man bewusst Quatsch erzählt. Ich weiß, dass ist gerade alles nicht einfach. Aber lassen sie es mich als Politikerin einmal ungeschützt von der vernarbten Seele reden: Wir kommen mit dem Weltklima nicht klar, wenn wir nicht ALLES in unserer Macht Stehende tun, um zu retten, was zu retten ist. Wir haben auch kein Erkenntnisdefizit. Und selbstverständlich wissen wir, dass es schwer fällt, wenn so viele Veränderungen auf einmal, bis in die häusliche Zimmererwärmung anstehen. Aber es wird nicht anders, langsamer, kühler, erträglicher, wenn wir weiter warten. Vielleicht, nein sicher machen wir Fehler. Der größte Fehler aber wäre und war, nichts zu tun oder Fehler als Ausrede zu nutzen. Das Beste, was wir uns tun können ist doch, wenigstens die Fehler zu machen, die wir uns verzeihen können und dann sogleich daraus zu lernen.
2. Im Blick auf unsere Gesellschaften
In einer zweiten Runde will ich den Fokus enger stellen. Nicht mehr die ganz große Klimakrise, sondern etwas näher der Blick in unsere Gesellschaften. Ich brauche nicht lange, um auch dort Geschwisterbeziehungen zu sehen, die von Verletzungen gezeichnet sind. Verletzungen durch Spaltung, durch Hass, durch Zertrennung, durch Unfrieden und Unglück.
Die Geschwisterbeziehung zwischen Ost- und Westdeutschland ist so eine. Die Geschwister gehören zusammen, niemand wird das bestreiten. Aber 40 Jahre waren sie getrennt, haben sich wohl auch ein wenig voneinander entfremdet – wie Josef und seine Brüder. Nur nebenbei: 40 Jahre, das ist genauso lange, wie das Volk Israel gebraucht hat, um durch die Wüste zu irren und zu sich zu finden. Nach 40 Jahren haben sie friedlich wieder zueinander gefunden – was für ein Glück!
Und doch sehen wir, dass die 40 Jahre nicht ohne sichtbare Spuren, nicht ohne Narben geblieben sind. Das Grüne Band, wo einmal die Grenzanlagen der innerdeutschen Grenze standen, markiert weiter sichtbar den Übergang von Ost nach West. Es ist heute gottseidank ein wunderschöner Grünstreifen, in dem gefährdete Pflanzen- und Tierarten eine seltene Nische gefunden haben. Es ist der größte Biotopverbund in ganz Deutschland. Einen Steinwurf von meinem Büro im Bundestag entfernt stehen die weißen Kreuze, die zur Erinnerung an die Menschen errichtet wurden, die bei dem Versuch, über die Berliner Mauer zu flüchten, ums Leben kamen.
Andere Narben sind nicht so deutlich sichtbar. Zwischen den Geschwistern, die 40 Jahre getrennt waren und sich auseinander entwickelt haben, alte und neue Fragen von Überlegenheit, von übergriffigem Machtgebaren und von Bevormundung weiterhin virulent. Zeugnisse und Berufsabschlüsse aus der DDR wurden im wiedervereinigten Deutschland nicht immer anerkannt. Viele Berufsbiografien wurden dadurch behindert. In der Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt, einem ehemaligen Stasi-Untersuchungs-Knast, kann man die Stimmen derjenigen hören, die dort eingesessen haben. Der Schmerz sitzt oft tief. Bis heute fehlen in Verwaltung, Justiz, Medien sogar in Ostdeutschland ostdeutsche Leitungspersonen. Und auch heute reden sich zu viele die DDR schön nach dem Motto: es war nicht alles schlecht. Dass die DDR den Nationalsozialismus nicht aufgearbeitet hat, sondern dekretiert hat, quasi das nicht verantwortliche Deutschland zu sein, ist keine Erfindung des Westens. Narben werden bleiben, auch in diesen Fällen. Und auch hier die Frage: reicht die Kraft? Auch diese Narben sind keine Schmuckstücke, keine Ausreden, die uns davon ablenken, was jetzt am Tage ist, was heute getan werden muss. Und: es wäre ja eine wirklich gute Sache, wenn den Ostdeutschen gerade Löcher in die Bäuche gefragt würden, wie sie das eigentlich hinbekommen haben, mit den 30 Jahren Transformation, 30 Jahre Veränderung – in allem. Es ließe sich, davon bin ich überzeugt, doch viel lernen von Ost nach West!
Auch in einem anderen Konflikt, der uns alle gerade sehr beschäftigt, stehen Fragen von Überlegenheit, Machtansprüchen und sogar Unterwerfung zur Debatte: Im Fall des Krieges von Putins Russland gegen die Ukraine. Die Wunden, die dieser Krieg schlägt, klaffen noch vor unser aller Augen. Es sind zerstörte Landschaften, Städte, Infrastruktur, aber auch eine unterdrückte Kultur, verschleppte Menschen, verfestigte Feindbilder in den Köpfen. Diese Wunden sind noch so frisch, sie konnten noch nicht vernarben. Und täglich kommen neue hinzu.
Und Unrecht muss als Unrecht benannt werden. Benannt und geahndet. Der eklatante Bruch des Völkerrechts. Die Kriegsverbrechen, die Putins Schergen verüben, von unabhängigen Expert*innen so genau wie möglich dokumentiert und beschrieben. In Butscha, in Mariupol, in so vielen anderen Orten. Vor drei Tagen erst wurde der Kachowka-Staudamm bei Cherson zerstört. Das ist eine humanitäre und ökologische Katastrophe. Es braucht ein Ukraine-Sondertribunal, wie Außenministerin Baerbock vorschlägt. Die Weltgemeinschaft muss sich fragen, nicht ob, sondern wie Putin und seine Helfer zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Ukraine ist Teil der europäischen Familie. Schon jetzt. Sie verteidigt ihre Souveränität und unser Europa. Dass die militärische Unterstützung auch aus Deutschland einen Unterschied macht, habe ich bei meinen Reisen in die Ukraine gesehen: Städte und Dörfer sind gezeichnet vom Krieg. Aber die Ukraine hat es geschafft, die Hälfte der besetzten Gebiete wieder zurückzuerobern und die Menschen dort von russischer Besatzung und Schikane zu befreien. Hier konnte Waffenunterstützung Freiheit schaffen, das furchtbare Leiden begrenzen und Leben retten. Es gehörte für mich, die ich auch groß geworden bin mit der christlichen Friedensbotschaft, zu den härtesten politischen Erkenntnissen, dass sich Frieden nicht immer ohne Waffen schaffen lässt. Frieden, echter, gerechter Frieden bedarf leider manchmal Voraussetzungen, die nur mit Waffengewalt herbeizuführen sind. Und immer wird verhandelt, parallel, auf Frieden hin.
Und schließlich braucht die Ukraine unsere Unterstützung auch beim Wiederaufbau, der schon jetzt beginnen kann und muss: Häuser, Wirtschaftsanlagen, Infrastruktur. Die Wunden, die der Krieg schlägt, müssen verbunden werden, müssen vernarben können.
Aber lassen sie es mich als Politikerin einmal ungeschützt von der vernarbten Seele reden: Ja, ich wünsche mir Frieden. Nichts mehr als das. Nur, um MEINEN Frieden geht es eben nicht. Auch nicht um ihren und euren. Nicht um das in Frieden gelassen werden. Es geht um den Frieden des geschundenen ukrainischen Volkes. Seit 2014 kämpfen sie um ihr Überleben. Die Bemühungen von Minsk haben nicht zu Frieden geführt, nur dazu, dass zu viele eben nicht mehr hingeschaut haben, sie hatten ja ihren Frieden. Es ist nichts gut in der Ukraine, solange sie angegriffen wird, ihre Städte und Dörfer, eine Insel eingenommen ist, ihre Menschen und eben ihre Identität selbst. Und deswegen – so schwer es uns fällt -: es geht um Frieden in und für die Ukraine, die Ukrainer*innen, unsere europäischen Geschwister.
Und es gibt noch etwas, was wir tun können, sie hier, ich. Putins Ziel ist die ukrainische Identität, Kultur, das Sosein. Also lesen wir doch die Bücher von Serhej Shadan, Oksana Sabuschko und Juti Andruchowytsch. Schaut euch die Bilder von Maksym Jewhenowytsch Lewin an, der letztes Jahr im Krieg umkam. Hört Daha Braha – wunderbare Musik, das das ukrainische Gestern und Heute verbindet. Oder, noch viel einfacher: Morgen Abend. Im großen Saal der Meistersingerhalle. Da spielt das Kyiv Symphony Orchestra. Weil ihr Konzerthaus in Kyiv kriegsbedingt anders genutzt wird, leben und proben sie seit dem vergangenen Jahr in Gera in meiner Heimat Thüringen. Mit ihrer Musik sind sie Botschafter*innen der Ukraine und ihrer Kultur.
3. Im Blick auf uns selbst
In einem dritten Anlauf will ich die Gedanken der Josefsgeschichte auf uns selbst schauen. Niemand von uns kommt wohl ohne Narben durchs Leben. Wir alle haben welche. Ist es der Shitstorm, den mir eine unbedachte Äußerung eingebracht hat und der mich doch mehr trifft, als ich zugeben mag? Ist es der Bruder, die Tante, der angeheiratete Patenonkel, die AfD wählen. Meine eigene Angst, Konfliktscheu, Harmoniesucht, die mich hindert, den Konflikt offen auszutragen? Du kannst über alles reden, nur nicht über Politik? Ist es die Freundin, der ich nicht mehr glauben kann, dass alles gut ist in ihrer Beziehung, weil ich ihrem leeren Blick nicht ausweichen kann und sehe, was sie verstecken will: Beulen und blaue Flecke, eine verletzte, traurige Seele?
Auch meine Kirche trägt Narben. Immer mehr Menschen kehren ihr den Rücken. 2022 war das Jahr, in dem erstmals in der bundesdeutschen Geschichte weniger als 50% der Bundesbürger*innen einer christlichen Kirche angehörten. Wir Ossis kennen das, Leben in der Diaspora. Die Kirchen gehen offen damit um: Schon 2019 prognostizierten sie die Halbierung der Mitgliedschaftszahlen bis 2060. Auf dem Kirchentag scheinen uns diese Dinge fern, weil wir viele fröhliche Glaubende treffen und uns daran freuen. Zurückgekehrt in unsere Gemeinden sind die leeren Bänke oft aber unübersehbar. Und was ist mit denen, die nicht oder nicht mehr Kirchenmitglieder sind, aber eine Sehnsucht haben, die Tür vielleicht nicht finden? Die, die schon ihren Glauben haben? Manchmal frage ich mich ja: Hat sich Gott vielleicht versteckt? Oder hat er irgendwie keine Lust mehr auf uns?
Von Josef lernen wir, dass nicht vergeben und vergessen, nicht einen Schlussstrich ziehen, nicht „ist-schon-alles-wieder-gut“ die beste Lösung ist. Stattdessen: Die Narben nicht verschämt verstecken. Aussprechen, was einen (immer noch) quält. Als diejenigen, die die Narben tragen. Und als diejenigen, die sie anderen zugefügt haben. Keine Nabel- aber eine Narbenschau. Das hilft uns, damit zu leben, denn das müssen wir so oder so. Besser, wenn uns und anderen, mindestens aber den wunderbaren Menschen an unserer Seite – und den wunderlichen in unserem Leben auch – klar ist, wo unsere persönlichen Triggerpunkte liegen. Das heißt auch: zu den Narben, Verletztheiten, Verletzlichkeiten zu stehen, uns nicht selbst für unverwundbar zu halten.
Und ein letztes Mal die Frage: reicht die Kraft, nicht nur unsere Narben zu zeigen und das Schlimme anzuerkennen, das sie bedeuten, sondern auch mit Zuversicht zu tun, was dran ist?
Ich glaube aber doch!
Die Narbenschau darf uns doch nicht davon abhalten zu tun, was jetzt am Tage ist. Eigentlich ist eher das Gegenteil richtig: Erst wenn wir klar kriegen, wo wir verwundbar sind oder verwundet, können wir einschätzen, was unser Beitrag sein kann zu dem, was jetzt ansteht. Gott hat uns nicht als still Leidende geschaffen und gemeint, sondern als mit Anpackende. Als Zuversichtliche. Die anpacken und tun, was sie können. Die im Vorletzten das tun, was dem Letzten nicht im Wege steht, sondern ihm dient.
Lassen sie mich als Politikerin jetzt nichts mehr von der vernarbten Seele reden: Sondern sagen: Auf geht‘s! Jetzt ist die Zeit! Und Amen.