11. Februar 2021

Bundestagsrede: Regierungserklärung der Kanzlerin zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Es war der 29. Oktober 2020, da habe ich an dieser Stelle gefordert, es braucht eine langfristige Perspektive. Damals ging es darum, dass die Infektionszahlen stiegen. Schon damals wäre es notwendig gewesen, transparent durchschaubar zu machen, wo wir hinsteuern, wie wir reagieren und wem wir wann helfen, damit es Zuverlässigkeit, damit es Vertrauen gibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt könnte man sagen, mir kann das gesunkene Vertrauen in die Bundesregierung egal sein. Ist es mir aber nicht. Warum? Weil wir bei weniger Vertrauen eben auch erleben, dass die Maßnahmen weniger ernst genommen werden. Das ist das Problem, vor dem wir heute stehen.

Jetzt kann man einen Moment lang über die Sache mit den Friseuren lachen. Ich gönne jedem und jeder hier und anderswo eine Frisur.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eine frische Frisur! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ehrlicherweise gibt es da gar nichts zu lachen!)

Ich gönne übrigens auch den Friseurinnen die Einnahmen. Aber damit ist nichts anderes getan, als dass man das Gefühl hat, hier soll dem Volk ein Bömschen gegeben werden. Das ist aber keine Strategie. Das ist nicht langfristig. Das ist nicht klar. Das ist nicht eindeutig. Deswegen, sage ich, haben wir weiter ein riesiges Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will eindeutig sagen: Für mich heißen Perspektiven, Stufenpläne nicht, dass wir jetzt öffnen. Wir alle wissen doch, dass sich die Mutanten in Deutschland längst ausgebreitet haben und weiter ausbreiten werden. Es geht jetzt nicht ums Öffnen, sondern es geht darum, dass wir allen in unserem Land klarmachen, woraufhin wir gemeinsam arbeiten. Dieses Woraufhin-wir-gemeinsam-Arbeiten weiterhin mit Vorsicht haben Sie gestern nicht geliefert.

Wenn das nicht funktioniert, wenn es in der MPK nicht funktioniert und wenn die Autorität eben nicht reicht, dann – das sage ich hier in diesem Haus – müssen wir es von hieraus tun, es in diesem Parlament beschließen, im Bundesrat beschließen. Dann haben wir eine transparente, eindeutige, gemeinsame Haltung, die diskutiert ist, die transparent ist,

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Tun die Landesparlamente!)

die von Alternativen lebt, meine Damen und Herren. Das wäre notwendiger denn je.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist doch ganz klar: Wir als Abgeordnete sind gewählt, und die Menschen haben uns das Vertrauen gegeben, dass wir diese Dinge auch tatsächlich lösen und regeln. Deswegen richte ich mich ausdrücklich an Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD. Sie haben in Ihren Fraktionen ganz offensichtlich – wir haben es von der CDU/CSU-Fraktion auch lesen können – sehr viel Ärger mit der Bundesregierung gehabt. Das ist eine Auseinandersetzung, die ganz normal ist; darüber will ich mich auch gar nicht erheben. Es werden Fehler gemacht, und diese Fehler muss man thematisieren. Ich glaube, das ist total richtig. Aber es reicht doch nicht, hinter verschlossenen Türen, weil etwas durchgestochen wird, darüber zu reden, sondern das muss genau hier passieren, damit wir es in Zukunft gemeinsam besser machen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das betrifft auch umso mehr die Wirtschaftshilfen. 100 Tage waren die Menschen ohne Hilfe und ohne einen Cent Einnahmen auf dem Konto – 100 Tage! Es tut mir leid, ich kann heute nicht „Halleluja“ rufen, weil jetzt endlich einmal das Programm aufgelegt wird. 100 Tage ohne Hilfe! Und die Hilfe, die kommt, ist auch noch längst nicht ausreichend.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist ja falsch! Das sind gar keine 100 Tage!)

Sie bedeutet für viele Soloselbstständige, für Künstlerinnen und Künstler, dass sie im Vergleich zu dem, was sie eigentlich brauchen, nicht existieren können.

Deswegen sage ich, meine Damen und Herren: Diese Wirtschaftshilfen sind ein riesiges Versagen der Bundesregierung, ein Hin- und Herschieben zwischen Wirtschaftsminister und Finanzminister. Ich verstehe auch nicht, warum die SPD weiterhin nicht beim Unternehmerlohn mitmacht. Geben Sie sich einen Ruck, und helfen Sie den Menschen wirklich! Das hat auch mit Vertrauen zu tun. Das hat auch damit zu tun, wie wir aus der Krise wieder herauskommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir haben Monate gebraucht, bis es eine Regelung zum Homeoffice gab. Mir macht es Sorgen, dass wir einerseits darüber reden, wie wir es denn mit den Kindern schaffen – ich komme gleich dazu –, andererseits heute immer noch 20 Prozent mehr Menschen auf dem Weg zur Arbeit und nicht im Homeoffice sind als im März. Warum ist das so? Weil sie Sorge haben, dass sie in ihrem Unternehmen gedisst werden, aus ihrem Unternehmen womöglich entlassen werden, weil sie nicht mitmachen. Deswegen ist es auch eine politische Frage, ob wir klar und eindeutig sagen: Homeoffice muss jetzt gemacht werden, auch damit Kinder in die Schule können und die Kitas geöffnet werden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will genau dazu etwas sagen. Nach einem Jahr Pandemie können wir nicht mehr sagen: Schule auf oder Schule zu? Ich verstehe nicht, warum man sich darauf gestern nicht einigen konnte. Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum es nicht gemeinsame Voraussetzungen dafür gibt, dass in Schulen und Kitas Sicherheit für die Kinder, für die Erzieherinnen und für die Lehrerinnen herrscht.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist der Föderalismus!)

Herr Brinkhaus, die erste Voraussetzung dafür müssten wir jetzt gemeinsam schaffen: dass es wirklich für alle Schnelltests gibt, dass es wirklich ein Luftfilterprogramm gibt, das auch ankommt; denn wir werden nicht davon ausgehen können, dass das alles doch im April vorbei ist. Aber beim anderen bin ich sehr bei Ihnen. Wo ist denn das große Programm mit einem Fonds, mit einem Bundesfonds, das dafür sorgt, dass wir jetzt herausfinden, welche Kinder besonders viel Hilfe brauchen?

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Warum keinen Länderfonds, Frau Göring-Eckardt?)

Wo ist denn das Programm, mit dem wir tatsächlich feststellen, welche Kinder besondere Hilfe brauchen? Wir haben die zum Teil ein Jahr nicht gesehen; die waren nicht in der Notbetreuung, die waren nirgendwo.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Na ja! Jetzt übertreiben Sie doch nicht!)

Deswegen sage ich Ihnen ganz eindeutig, Herr Brinkhaus: Bitte lassen Sie uns das zusammen machen, ohne uns gegenseitig anzumeckern.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Erwecken Sie doch nicht den Eindruck, dass die Schulen ein Jahr zu gewesen wären! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Keine Schule ist ein Jahr zu gewesen!)

Das haben die Kinder in diesem Land überhaupt nicht verdient. Das haben die Kinder in diesem Land nicht verdient! Ganz im Gegenteil.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was müssten wir eigentlich tun? Wir müssen doch jetzt sagen: Konzepte für die Schulen sind da, sodass man dort sicher arbeiten kann. Und dort, wo es in der Schule nicht geht und wo auch der Wechselunterricht noch nicht reicht, setzen Sie das, was an Fantasie schon längst da ist, um. In Lüneburg wird in einer Kirche unterrichtet, und in Waffenrod-Hinterrod, einem kleinen Ort an der thüringisch-bayerischen Grenze, wird im Gemeindehaus unterrichtet,

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Niemand hindert die Länder und Kommunen, das zu tun!)

weil die Leute sagen: Wir können das mit Sicherheit hinbekommen. – Deswegen: Bevor man sich auf die Friseure einigt, bitte mit aller Kraft dafür sorgen, dass Schule sicher für Schülerinnen und Schüler und für Eltern ist und Kitas für Erzieherinnen auch tatsächlich stattfinden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Von dieser Anstrengung hängt sehr viel ab. Ich finde es sehr bemerkenswert, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie auch öffentlich gesagt haben: Ich konnte mich da nicht durchsetzen. – Wo Sie sich aber hätten durchsetzen können, das ist bei der Bereitstellung der Voraussetzungen. Das halte ich nach wie vor für den zentralen Punkt.

Dazu gehört übrigens auch, dass wir sehr direkte Hilfe brauchen. Viele Kinder leiden jetzt am meisten unter der Pandemie, aber womöglich auch noch dann, wenn sie schon längst vorbei ist. Deswegen brauchen sie jetzt unmittelbare Hilfe, sei es ein Student, der Flüchtlingskindern hilft, die dann hinterher sagen können: „Ich will Ingenieurin oder Ärztin werden“, oder die Großmutter, die im Feuerwehrhaus erklärt, wie das mit den Kegeln und mit den Quadern ist. Ja, warum denn eigentlich nicht? Wir könnten sehr viel mehr, wenn wir mit sehr viel mehr Fantasie unterwegs wären. Die Künstlerinnen und Künstler könnten am Ende sogar noch im Museum oder in der Galerie dafür sorgen, dass Kinder nicht einfach zu Hause sitzen gelassen werden. Vom Sitzenbleiben zu reden, ist jedenfalls der falsche Weg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Pandemie wird uns noch lange beschäftigen. Gleichzeitig sollten wir uns jetzt mit der Frage auseinandersetzen: Was kommt eigentlich danach?

(Beatrix von Storch [AfD]: Die nächste Pandemie!)

Nur dann werden wir es auch wirklich schaffen, das hier durchzuhalten. Also nach dem #Flockdown und dem Lockdown, wann kommt eigentlich Open-up? Das klingt ein bisschen nach Aufbruch, das klingt für manche sogar ein bisschen nach Tanzen. Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Aufbruch arbeiten.

Wir sehen in der Beschränkung, was uns etwas bedeutet: Begegnung, Nähe, Kontakt, Kino, Kultur, Klubs. Wir sehen, was machbar ist, wenn gemeinsam gehandelt wird – ja, das sehen wir tatsächlich –, wenn sich alle gemeinsam anstrengen. Wir sehen, was möglich wäre.

Wir haben nicht nur diese eine Krise. Die Klimakrise schläft weiterhin nicht, und die Artenkrise, die stillste von allen, auch nicht.

(Zuruf von der AfD: Nur noch Krise!)

Wenn wir bei der einen sehr viel Geduld brauchen, ist es bei den beiden anderen so, dass wir sehr viel und sehr schnell handeln müssen, und zwar auch von diesem Ort aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese 20er-Jahre könnten goldene 20er-Jahre werden, wenn wir zeigen, dass wir Krisen tatsächlich gemeinsam bewältigen, mit allem, was uns zur Verfügung steht, mit aller Kraft und immer gemeinsam mit den Menschen, und zwar von hier aus und nicht Top-down, von hier aus mit demokratischer Beteiligung. Vielleicht können wir dann irgendwann gemeinsam darauf tanzen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD.

(Beifall bei der SPD)