16. Mai 2023

Gerechter Friede – Voraussetzungen und Perspektiven

Rede im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Reden zur Religion“ der Deutschen Botschaft in Prag am 15. Mai 2023. Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Botschafter,
sehr verehrter Monsignore Holub,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

Wladimir Putin raubt Kindern ihre Kindheit,  lässt Familien auseinanderreißen und Leben zerstören. In den besetzten Gebieten in der Ukraine hat er eine Herrschaft des Terrors durchgesetzt, die auf die Ausrottung der ukrainischen Identität zielt. Das ist eine Missachtung der Menschlichkeit, des Völkerrechts und eine Absage an gute Nachbarschaft und ehrliche gemeinsame Interessen. Und eine Herausforderung für die Weltgemeinschaft.

Es ist brutal, aber wir müssen es aussprechen: Europa ist nicht mehr der sichere, friedliche Ort. Freiheit und Frieden – diese Grundwerte Europas – werden angegriffen, Europa wird angegriffen. Und wir wünschen uns nichts sehnlicher als Frieden. Frieden in der Ukraine, davon, meine Damen und Herren, bin ich überzeugt, kann es nur geben, wenn er gerecht ist. Nur ein gerechter Frieden schafft Frieden.

Lieber Herr Botschafter,
ich bedanke mich herzlich für Ihre Einladung, hier vor Ihnen allen darüber sprechen zu dürfen, was ich mit gerechtem Frieden meine und was Frieden und Freiheit für mich bedeuten.

Ich darf das in einer Stadt, die mit dem Prager Frühling so viel Hoffnung auf Freiheit zerschlagen sah, die mit der Charta 77 ein Anker für Dissidenten in ganz Osteuropa war, in einem Land, in dem Milan Horacek, Vaclav Havel, Alexander Dubcek und Marta Kubisova – für mich prägende Menschen – gezeigt haben, was es heißt, in einer Diktatur zu leben und zu wirken. 

Ich spreche zu Ihnen heute als Politikerin, als Protestantin, als Ostdeutsche. Ich bin in der DDR-Diktatur aufgewachsen. In Unfreiheit, als Pazifistin. Als Jugendliche heftete ich mir wie andere „Schwerter zu Pflugscharen“ an die Jacke. Das war das biblische Wort von Micha 4.3 und wurde zum Ruf der DDR-Friedensbewegung. Als Protest gegen die Stationierung sowjetischer Atomraketen vom Typ SS 20 und der westdeutschen Pershings. Ein Unterschied übrigens zur westdeutschen Friedensbewegung, die sich in reflexhaftem Antiamerikanismus nur gegen die Pershings aufstellte.

Unser Kalkül damals: Niemand konnte doch gegen das Symbol sein, das die UdSSR der UNO als Denkmal geschenkt hatte. Aber das Zeichen wurde in der DDR verboten. Manche trugen deshalb bewusst die leere Stelle mit den Nähten auf dem Ärmel. Als Studentin engagierte ich mich bei „Frauen für den Frieden“, 1987 lief ich beim Olaf Palme Friedensmarsch mit, benannt nach dem ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten.

Ich bin mit der Friedensbewegung groß geworden. Wir schafften die friedliche Revolution ohne Waffen. So wie hier in Prag die samtene Revolution.
Das berühmte Zitat eines Stasioffiziers vom 9. Oktober 1989 ist vielen noch im Sinn: wir hatten mit allem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Dass es friedlich war, war ein großes Glück. Geholfen hatte uns – hier wie dort – auch(!) die Aufmerksamkeit des Westens. Der Staats- und Parteiführung war klar: alles was passiert, kann in westdeutschen Medien öffentlich werden. Wenn jemand verhaftet wird, musste man damit rechnen, dass er Kontakte in die BRD hatte. Einmischung macht also Sinn – als Schutz, um gemeinsame Ziele zu verfolgen zum Beispiel.

Für mich änderte der Bosnien-Krieg 1992 und später Ruanda 1994 meine rein pazifistische Haltung Ich konnte nicht fassen, nicht akzeptieren, dass die Welt nur zuschaut. Hilflos.  Als der Bosnien-Krieg ausbrach, war ich bei Bündnis 90 und wir verhandelten die Fusion mit den Westgrünen. Mittendrin veröffentlichten wir einen Offenen Brief an die Friedensbewegung. Wir schrieben damals: „Krieg ist wieder zum Mittel der Politik geworden. Menschenrechte werden in einem Maße verletzt, wie es sich die meisten Menschen in Westeuropa nicht mehr vorstellen konnten.“ 

Wir plädierten für deutsche Blauhelm-Soldaten im Westbalkan. Dem Prinzip der Gewaltfreiheit setzten wir das Prinzip der Einmischung hinzunicht dagegen. Heute erleben wir wieder Krieg in Europa. Unvorstellbares Leid. 

Wie beenden wir den Schrecken, wie schaffen wir Frieden? Was ist Frieden?

Definition: Frieden

Lassen Sie uns gerade auch vor dem Hintergrund der samtenen und der friedlichen Revolution in unseren beiden Ländern diese Friedensfrage gemeinsam beleuchten. In zwei Ländern, die ganz oder teilweise Verbündete der Sowjetunion waren. Und lassen Sie uns dies tun vor dem Hintergrund christlicher Ethik. Das ist in Gesellschaften, die wie Ostdeutschland oder Tschechien säkularer kaum sein können, eine besondere Herausforderung. Das ist in einer Zeit, in der in den westlichen Ländern der Einfluss von Kirchen nachlässt, eine Frage auch universeller Werte, die im Christentum Heimat und Wurzel haben. 

Frieden ist für mich nicht einfach die Abwesenheit von Gewalt. Frieden ist nicht einfach das Schweigen der Waffen.

Lassen Sie es uns am biblischen Begriff des „shalom“ betrachten: „Gottes Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten, dass (…) Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“, so singt der Psalmist in Psalm 85. Schon hier steht der Frieden also nicht für sich, sondern wird ergänzt und konkretisiert durch Güte, Treue und Gerechtigkeit. 

Auch die kirchliche Tradition, kennt den Dreiklang „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Im Rahmen des Konziliaren Prozesses hat die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Dresden 1988 erstmals intensiv den Begriff des „Gerechten Friedens“ ausführlich diskutiert. Sie war der Überzeugung: Frieden ohne globale Verteilungs-Gerechtigkeit, ohne die Achtung und den Schutz der Menschenrechte kann kein vollständiger Frieden sein. Und: die Bewahrung der Schöpfung war ausdrücklich Teil des Friedensthemas. 

Gerechtes Verteilen. Achten. Schützen. Bewahren. – Das geht nicht durch Zuschauen, das braucht Handeln, Einmischen, das Prinzip der Einmischung.

Das gilt im Übrigen nicht nur bei klassischen, militärischen Menschenrechtsverletzungen.

Beispiel: Bewahrung der Schöpfung

Erlauben Sie mir also einen Exkurs oder besser ein Einbetten und schauen wir uns die Bewahrung der Schöpfung an.

Die aktuellste, gravierendste globale Gefahr für unsere Schöpfung ist die Klimakatastrophe. Sie stellt die Frage nach der Bewahrung der Grundlagen menschlichen Überlebens radikal. Und sie stellt sie global. Ihren Folgen sind längst konkret. Überschwemmungen in Pakistan und Indien,in Europa und in Deutschland, wenn auch bisher in unterschiedlichen Dimensionen. Einige Pazifische Inselstaaten sind existenziell bedroht. 

Noch vor zwei Wochen ächzte die iberische Halbinsel unter einer Hitzewelle, die historisch beispiellos für diese Zeit im Jahr ist. Der Wald in meiner Heimat Thüringen und wie ich weiß auch hier in Tschechien leidet ebenso seit Jahren unter wiederkehrender Trockenheit wie Flüsse, die damit nicht nur als Lebensraum für Tiere und Pflanzen ausfallen, sondern auch als Wasserstraßen oder Kühlreservoirs und damit auch massiven wirtschaftlichen Schaden hinterlassen.

Der ehemalige tschechische Präsident Milos Zeman hat ja für einige Aufregung gesorgt, als er vor knapp zwei Jahren davon sprach, die Dürre sei für Tschechien schlimmer als das Coronavirus. Faktisch hatte er recht. Auch das Artenaussterben nimmt so bedrohliche Ausmaße an, dass Ökosysteme kollabieren – mit unabsehbaren Folgen, auch für uns Menschen. 

Klimakatastrophe und Artenaussterben bedrohen menschliches Leben in der ganzen Welt, in manchen Weltregionen schärfer und dringlicher als in anderen. Wir können uns im globalen Norden nicht eine Insel der Seligen schaffen, wenn anderswo reale Inseln im Meer versinken und Menschen aus ihrer Heimat verdrängen. Gerechtes Ver-Teilen von Verantwortung und Verpflichtung – damit ist die Gerechtigkeitsfrage schon gestellt.

Welche Weltregion ist in der Lage, welchen Beitrag zur Bewahrung der Lebensgrundlagen zu leisten, die letztlich allen zugutekommt? Wie können wir als Weltgemeinschaft unsere Anstrengungen so koordinieren, dass niemand unverhältnismäßig belastet ist und niemand auf Kosten anderer lebt? Was kann gerechtfertigterweise von wem verlangt werden? Was sind wir im globalen Norden den Menschen im globalen Süden schuldig, die unsere Lebensweise die Heimat kostet? Alles Gerechtigkeitsfragen. Gerechtigkeitsfragen werden schnell zu Konflikt- und damit zu Friedensfragen, wenn sie unbearbeitet, ungelöst bleiben.

Das gilt auch in unseren europäischen Gesellschaften – wenn wir politisch darum ringen müssen, wie die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen so ausgestaltet werden, dass sie bestehende soziale Unterschiede nicht weiter verschärfen oder neue schaffen. Wenn etwa Wohlhabende sich auch bei steigenden Preisen ein klimaschädliches Verhalten leisten können, dann wird die Transformationslast zu großen Teilen den weniger Wohlhabenden aufgebürdet. Der gesellschaftliche Frieden ist gestört.

Auch hier in Tschechien haben Sie es erlebt, wie die Sorgen der Menschen angesichts einer beängstigenden Inflation von rechten Kräften für deren Agenda instrumentalisiert wurden und wie das gesellschaftsspaltendes Potenzial entwickeln kann. Global betrachtet: Können kriegerische Auseinandersetzungen um knappe und knapper werdende Ressourcen ausgeschlossen werden? Nein. Es braucht Vorsorge, gerechte Vorsorge. Nur die sichert Frieden.

Putins Krieg gegen die Ukraine

Nach diesem Exkurs komme ich zurück zum Beginn meiner Rede. Dem Krieg, der uns alle so tief bewegt. Dem völkerrechtswidrigen Angriff von Wladimir Putin.

Wenn wir uns vor Augen führen, wie es dazu kommen konnte, hilft uns das aus meiner Sicht bei der Frage, was es braucht, um das unfassbare Leid zu beenden.  Wie es dazu kommen konnte, ist verbunden mit der Frage, was Putin will. Auch das müssen wir uns klar machen, um die richtige Reaktion zu finden. Und wir dürfen nicht den Fehler einiger scheinbar besonders Friedensbewegter machen, nur nach Putin zu schauen. Wir müssen auch fragen: Was ist der Anspruch der Ukraine? Und was hat das mit uns als Europa zu tun?

Was also ist die notwendige Voraussetzung dafür, Perspektiven für einen gerechten Frieden aufzuzeigen. 

Putin: wie er konnte, was er will

Wie konnte also Putin die Ukraine überfallen, was will er?

Putins Krieg gegen die Ukraine hat nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen. 2014 besetzte er gewaltsam die Krim und führte Krieg im Donbas. Die Staatengemeinschaft hatte das damals zwar verurteilt und Sanktionen verhängt. Deutschland, mit dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, engagierte sich für das Minsker Abkommen. Aber das war eben keine Grundlage für einen stabilen, einen nachhaltigen Frieden für die Ukraine.

Die Gewalt machte keine Pause. Die Angriffe gegen Menschenrechte machten keine Pause. Frieden zeigt sich nicht daran, ob wir (!) keine Panzer mehr sehen oder Explosionen hören. Tausende Krimtartaren flüchteten, die Verbliebenen wurden von der russischen Besatzung schikaniert, bekamen die Pässe abgenommen. Deutschland hat weggeschaut. Putin lernte: Seine Missachtung des Völkerrechts hat keine weiteren Konsequenz. 

2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz machte Putin vor den Augen der Weltgemeinschaft deutlich, was er will: eine neue, wie er es nannte, „Architektur der globalen Sicherheit“. Anderthalb Jahre später marschierten russische Truppen in Georgien ein. Heute macht sich die Republik Moldau ernsthafte Sorgen.  Putin verfolgt seit Jahren einen imperialistischen Plan. Er versucht die alte Sowjetunion jedenfalls in Teilen wiederauferstehen zu lassen. Er sucht die Vorherrschaft Russlands und schreckt ganz offensichtlich nicht vor militärischer Gewalt zurück. Statt Putin in die Schranken zu weisen, belohnte ihn Deutschland mit dem Baubeginn der Gaspipeline Nord Stream II. Heute zeigt sich für alle, wie fatal diese Entscheidung war.

Meine Damen und Herren,
wo Menschenrechte zur Disposition stehen, kann niemals von „Frieden“ die Rede sein, erst recht nicht von „gerechtem Frieden“. Schauen wir hin, was täglich passiert. Wir dürfen nicht müde werden, uns das Schrecken vor Augen zu führen.  Zehntausende unschuldige Kinder, Frauen und Männer werden von russischen Soldaten getötet, Hunderttausende verletzt und Millionen aus ihren Wohnungen vertrieben. Es sind seine Angreifer, die in der Ukraine Frauen vergewaltigen. Er lässt Kinder nach Russland verschleppen, dort russisch adoptieren oder umerziehen. Er raubt Kindern ihre Herkunft. Wenn diese Kinder klein sind, dann werden sie sich möglicherweise nie mehr an ihre Herkunft erinnern. Man wird sie nicht wiederfinden und zu ihren Eltern zurückbringen können. Putin will die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer zermürben. 

Als ich vor Ort in der Ukraine war, haben mir die Menschen berichtet: Da gibt es über Wochen, Monate, keine normale Stromversorgung, bei meinem Besuch in Odesa gab es für maximal 3 Stunden pro Tag Strom für Privathaushalte und die Menschen wussten nicht, wann das sein wird, manchmal nur in der Nacht. Das bedeutet natürlich, dass auch die Krankenhäuser nicht richtig arbeiten können, immer nur provisorisch mit Generatoren. Die Kinder gehen zum Lernen oder Spielen in Keller. In Odesa habe ich den Holocaust-Überlebenden Roman Schwarzman getroffen, der jeden Tag in den 11. Stock steigen muss, weil der Fahrstuhl nicht zuverlässig fährt. Die besetzten Gebieten in der Ukraine hat Putin mit einer Herrschaft des Terrors durchsetzt, die auf die Ausrottung der ukrainischen Identität zielt. 

Anspruch der Ukraine

Das ist zugleich die Antwort auf die Frage: Was ist der berechtigte Anspruch der Ukrainer*innen? Bestehen! Existieren! Leben! Selbstbestimmt, in Freiheit! Ihre Identität und Kultur bewahren. Ohne ständige Sorgen um die Kinder, den Vater, die Oma. Sie wollen ihre überfallen Gebiete zurück. Ja, selbstverständlich wollen sie das!

Wer wären wir, ihnen diese Selbstverständlichkeiten zu verwehren?

Unsere Verpflichtung

Was ist also, meiner Auffassung nach, unsere deutsche, europäische Verpflichtung? Hier spreche ich wieder nicht nur als Politikerin, sondern erst recht als Christin. 

Erinnern wir uns an ein Gleichnis: Die Ukraine ist unter die Räuber gefallen. Anders als im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter aber sehen wir nicht nur das Opfer verletzt am Straßenrand liegen, während der Angreifer längst über alle Berge ist. Der Angriff geschieht vor unseren Augen. Der Aggressor brüstet sich gar vor aller Augen seiner Taten, will sie der Welt als Befreiung vom Faschismus verkaufen und scheut nicht den unsäglichen Vergleich zur Befreiung von der Nazi-Barbarei.

Für mich als Christin ist es keine Option, vorüberzugehen. Den Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, seinem Schicksal zu überlassen. Das christliche Gebot der Sorge und Mitverantwortung für die Nächsten, für den unter die Räuber Gefallenen, erlaubt, ja, verpflichtet uns auch aus urchristlicher Perspektive, der Ukraine zu helfen, wenn Menschen von Russland ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden Das Prinzip der Einmischung!

Als politischer Mensch nötigt mich meine christliche Verantwortung, aber auch meine politischen Werte und die Grundvernunft im Zusammenleben der Völker, mich einzumischen, statt nur zuzusehen. Gerade auch aus der historischen Verantwortung Deutschlands für die Ukraine. Die Ukraine hatte über weite Strecken des vergangenen Jahrhunderts unter zwei totalitären Systemen zu leiden. Sie war Opfer des Hitler-Stalin-Paktes – der verbrecherischen, militärischen Aufteilung Osteuropas zwischen zwei selbsternannten Großmächten – und sie war ab 1941 in besonderem Maße Schauplatz deutscher Menschheitsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Es sind, daran müssen wir uns erinnern: 8 Millionen Ukrainer*innen sind Opfer der Nazibarbarei geworden.

Die Unterstützung hat aus meiner Sicht mindestens drei Formen:

Sie besteht zuallererst sehr konkret und akut darin, die Ukraine mit Waffen in ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen. Was zweitens ebenso schon jetzt anlaufen kann und muss, ist die europäische Hilfe beim Wiederaufbau, finanziell wie logistisch. Und schließlich kommt mittelfristig drittens noch hinzu, dass wir die Ukraine auch ideell unterstützen in ihrem Streben nach Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit, und das bedeutet, dass sie Teil der europäischen Familie ist und bleibt.

Ich möchte diese drei Punkte gerne näher erläutern:

Erstens: Die Waffenlieferungen.

Die Ukraine hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Niemand würde dem unter die Räuber Gefallenen vorschreiben, dass er die Hand, die gegen ihn gerichtet ist, nicht wegschlagen darf, dass er sich der Waffe, die auf ihn zielt, wehrlos ergeben muss. Und wo das vereinzelt doch geschieht – gern mit dem Verweis auf Jesu Wort aus der Bergpredigt, man solle doch auch noch die andere Wange hinhalten – da möchte ich vor unbiblischem Fundamentalismus warnen: Was Jesus mit Blick auf die unmittelbar bevorstehende Gottesherrschaft und an ein christliches Individuum gerichtet formuliert, das lässt sich nicht aus diesem Zusammenhang lösen und übertragen auf unsere offensichtlich ziemlich unerlöste Welt und auf ein auf Dauer ausgerichtetes Kollektiv, das ein Nationalstaat nun einmal ist.

Dass die militärische Unterstützung einen Unterschied macht, habe ich bei meinen Reisen in die Ukraine gesehen: Städte und Dörfer sind gezeichnet vom Krieg. Die Ukraine hat es geschafft, mit den Waffen, die geliefert worden sind, die Hälfte der besetzten wieder zurückzuerobern und die Menschen dort von russischer Besatzung und Schikane zu befreien. Hier konnte Waffenunterstützung Freiheit schaffen und das furchtbare Leiden begrenzen.

Ohne westliche Waffenlieferungen würde es die Ukraine und das ukrainische Volk heute nicht mehr geben. Am Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges vor einer Woche hat Russland die Ukraine mit 25 Raketen angegriffen. 23 davon konnten abgewehrt werden. Nicht auszudenken, wie viele es ohne westliche Unterstützung gewesen wären. Bei aller militärischer Unterstützung muss unmissverständlich klar sein: Es geht um Hilfe zur Selbstverteidigung. Weder Deutschland noch ein anderes Land wird selbst Kriegspartei werden. Darin sind sich alle Unterstützer*innen der Ukraine einig. Und auch die Ukraine will das nicht. Und ebensowenig geht es darum, Russland anzugreifen!

Ich bin dankbar, dass Deutschland insgesamt mehr als 11 Milliarden Euro für 2023 und darüber hinaus vorgesehen hat, um die militärische Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen. Gestern beim Besuch von Präsident Selensky hat die Bundesregierung in Berlin angekündigt: Durch bedarfsgerechte neue Pakete an Militärausrüstung wird Deutschland die Ukraine weiterhin bei der Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeiten unterstützen.

Zweitens: Der Wiederaufbau.

Um im Gleichnis-Bild zu bleiben: Die Wunden, die der unter die Räuber Gefallene davonträgt, müssen verbunden werden, heilen. 

Wir unterstützen die Ukraine bereits jetzt beim Wiederaufbau zerstörter Häuser, zerstörter Wirtschafts- und Industrieanlagen, zerstörter Infrastruktur. Wir helfen mit, dass die Krankenhäuser arbeiten, die Schulen, Polizeistationen und Gerichte. Schon vor einem Jahr hat EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen eine europäische Führungsrolle beim Wiederaufbau der Ukraine angekündigt. Die Bundesregierung hat kürzlich eine Online-Plattform zur Koordinierung von Wiederaufbauhilfen gestartet und Gelder zugesagt. Bei meinen Besuchen in der Ukraine wurde mir berichtet, dass die Ukraine Fachleute verliert und Staatsangehörige zurückholen muss. Damit das gelingt, müssen Wohnraum und soziale Infrastruktur wieder aufgebaut werden. Bei der Energieversorgung einer wiederaufgebauten Ukraine setzt die ukrainische Regierung auch auf Erneuerbare Energien. 

Präsident Selensky sagte vor ein paar Tagen erst: In der Ukraine werde die Welt sehen, wozu Europa fähig ist. „Wir werden das Maximum von Europa in Europa haben – das Maximum dessen, was europäische Werte, was europäische und globale Zusammenarbeit leisten können.“

Drittens: Die europäische Familie.

2004 war ich zum ersten Mal in der Ukraine, während der Orangenen Revolution auf dem Kijiwer Maidan. Schon damals sprachen sich die Menschen bewusst für ein Europa aus. Andere haben behauptet, hier seien „westliche Mächte“ am Werk. Aber: Ich habe ihre Sehnsucht gespürt – und geteilt! –nach Freiheit, nach Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Dieser Besuch wurde der Ausgangspunkt meiner tiefen Verbundenheit zur Ukraine und zum ukrainischen Volk.

Seitdem konnte ich aus der Nähe wie aus der Ferne beobachten und sehen, wie sich dieses Land unter schwierigsten Bedingungen weiterentwickelt hat, Korruption bekämpft und weiter bekämpfen muss, Rechtstaatlichkeit auf- und ausbaut, mehr Demokratie entwickelt. Ich freue mich, wie viele junge Frauen im ukrainischen Parlament Verantwortung übernehmen.

Meine Damen und Herren,
die Menschen in der Ukraine bekennen sich seit Jahren zu Europa, zu Freiheit und Demokratie. Es sind dieselben Werte, für die ich selbst mit der Friedlichen Revolution auf die Straße gegangen bin. So wie so viele hier in Prag während der samtenen Revolution und vor allem auch davor als Dissidenten. Es sind unsere gemeinsamen europäischen Werte, die die Ukraine gegen Putins Feldzug verteidigen.

Die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich für den meist nicht leichten Weg der Freiheit entschieden. Eine doppelte Freiheit. Um Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zu zitieren. Es ist eine „adlige Freiheit“, eine „von und zu“: Freiheit von äußerer Bevormundung und Freiheit zu verantwortlicher Mitbestimmung. Freiheit, die ihr eigener Herr ist, und Freiheit, die sich fromm und frei in den Dienst nehmen lässt für verantwortliches Mitgestalten. 

Dass die Menschen in der Ukraine momentan diesen unglaublichen Durchhaltewillen haben, liegt an der dienstbaren Seite der Freiheit. Aber sie wissen, wofür sie es tun: Für den selbstbestimmten Teil ihrer Freiheit, den Putins Angriff ihnen streitig machen will. Sie kämpfen für ihre Freiheit und für unser Europa. Dabei schützt die Ukraine auch unsere Freiheit und unsere europäische Sicherheit. Wir Europäer*innen haben auch ein eigenes Interesse daran, den Kampf der Ukraine zu unterstützen. Um unmittelbare Bedrohung für uns selbst abzuwehren.

Wir sind nicht mehr erpressbar durch russische Gaslieferungen, aber wir sind angreifbar. Und wenn man sich anschaut wie sehr Russland gleichzeitig versucht im Netz, mit Bots, in Chats, Einfluss auf unser demokratisches Gemeinwesen zu nehmen, es zu destabilisieren, weiß man, dass dieser Krieg längst auch hybrid geführt wird. Als Desinformationskrieg, als Cyberkrieg, mit geheimdienstlichen Mitteln. Das kann niemand zulassen, der dauerhaften Frieden will und die Regeln der Vereinten Nationen respektiert.

Voraussetzung für gerechten Frieden

Zum Schluss meiner Rede, also der Versuch einer Antwort, auf die Frage: Wie kann es in der Ukraine zu einem gerechten Frieden kommen?

Einige fordern einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen. Ich verstehe die unbedingte Sehnsucht nach Frieden. Ich teile sie. Ich bin selbst mit der christlichen Friedensbotschaft groß geworden. Deshalb gehörte es für mich zu den härtesten politischen Erkenntnissen, dass sich Frieden nicht immer ohne Waffen schaffen lässt. Und so ist es auch in diesem Fall.

Der biblische Pazifismus ist kein naiver Pazifismus. Er ist vor allem der nicht hoch genug zu schätzende Pazifismus des Individuums. Als Staat, als Gesellschaft ist uns eines mehr ins Buch geschrieben, denn Friedensethik muss sich in der Realität als glaubwürdig bewähren. Das Prinzip der Gewaltfreiheit muss um ein Prinzip der Einmischung, des Rechts, der Gerechtigkeit ergänzt werden. Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat es vor einem Jahr treffend so zusammengefasst: „militärische Gewalt ist nie ‚gerecht‘, sondern schrecklich. Aber es kann eben auch Situationen geben, wo der Verzicht auf sie noch schrecklicher ist.“

Wer heute einen vorbehaltlosen Waffenstillstand mit einem sofortigen Ende aller militärischen Unterstützung für die Ukraine einfordert, verlangt in Wahrheit morgen von der Ukraine ihre Unterwerfung. Das ist kein friedlicher Pazifismus, sondern einer, der den Aggressor belohnt, und der gerade nicht gewaltfrei ist, weil er sehenden Auges zulassen würde, dass Gewalt, dass Menschenrechtsverletzungen, dass Zerstörung einer eigenständigen Kultur weitergehen.

Nein, ich bin der Meinung: Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass auf Augenhöhe geredet werden kann. Dann kann es den Waffenstillstand und dann natürlich Verhandlungen geben. Anders geht es nicht. Erst dann kann sie – die Ukraine, nicht irgendwer anders – mit Russland über einen gerechten Frieden verhandeln. Ich bin der Überzeugung: Frieden kann es nicht geben, wenn ihn der Aggressor diktiert.

Die Ukraine und die Weltgemeinschaft können Putin nicht trauen. Leider. Russland hatte der Ukraine im Budapester Memorandum 1994 bestätigt, „die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren.“ Die Ukraine ist im Gegenzug dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten und hat alle im Land stationierten Atomwaffen nach Russland übergeben. Zwei Jahre später, im Sommer 1996, war die Ukraine atomwaffenfrei und hatte damit seinen Teil der Vereinbarung eingehalten. Dieses Sicherheitsversprechen, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine unangetastet zu lassen, hat Putin gebrochen

Auch das Minsker Abkommen von 2015 war das Papier nicht wert. Leider. Putin und seine Leute haben weiter unschuldige Ukrainerinnen und Ukrainer überfallen, eingesperrt, verschleppt oder unterdrückt, solange sie nicht „russisch“ sind. Putin dekretierte, welche Gebiete er seinem Russland gern einverleiben würde, und zwar mit großem Appetit. Das war kein Frieden, nicht einmal ein Waffenstillstand, der diese Bezeichnung verdient. 

Natürlich bleibt es richtig und notwendig, auch jetzt alle Gesprächskanäle offen zu halten und stetig auszuloten, was wann möglich ist, um die Schrecken zu beenden. Waffenlieferungen und Verhandlungen sind eben nicht alternativ. 

„Si vis pacem para bellum“ heißt es klassisch. Sagen wir heute aber: „Si vis pacem para pacem“, also: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor“. Dieses Leitbild ließe sich meines Erachtens durchaus füllen, und zwar in folgendem Sinne: Frieden, echter, gerechter Frieden, bei dem die Waffen schweigen und in Verhandlungen auf Augenhöhe tragfähige Lösungen gefunden werden, solcher Frieden bedarf leider manchmal – und eben auch im Fall der Ukraine – Voraussetzungen, die nur mit Waffengewalt herbeizuführen sind. 

Zur Gerechtigkeit, meine Damen und Herren, gehört in einem Rechtsstaat auch die Frage der Bestrafung. Präsident Selensky sagte vor wenigen Tagen: „Es liegt in unserer historischen Verantwortung – der modernen Generationen –, die volle Bestrafung von Aggressionen unvermeidlich zu machen, um nicht nur die Wiederholung von Aggressionen gegen unser Land, sondern auch neue Kriege zu verhindern.“ Die Welt müsse „nach Gerechtigkeit streben, um den Frieden vollständig zu sichern.“ Frieden sichern mit Gerechtigkeit. Darum geht es. Und das heißt auch: Vom Ziel des Rückzugs der russischen Truppen und der Wiederherstellung der vollen Souveränität der Ukraine kann nicht abgerückt werden.

Die Bundesregierung hat beim gestrigen Besuch von Präsident Selensky in Berlin deutlich gemacht: Deutschland unterstützt die Initiative der Ukraine für einen gerechten und dauerhaften Frieden im Einklang mit der VN-Charta auf der Grundlage der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Ukraine. So wie in Präsident Selenskys Friedensformel dargelegt. 

Meine Damen und Herren,
Deutschland steht bereit, um in Zusammenarbeit mit der Ukraine eine größtmögliche internationale Beteiligung an der Umsetzung der ukrainischen Friedensformel und einem globalen Friedensgipfel zu erreichen.
Ich danke Ihnen.