30. Januar 2024

Holocaust-Gedenken im Berliner Ensemble

Anlässlich des Holocaust-Gedenktages fand auf Initiative der Ilse Holzapfel-Stiftung im Berliner Ensemble eine chorische Lesung des Textes „Ratten auf der Flucht“ statt. Vor Beginn der Lesung habe ich im Grußwort der Opfer des Holocaust gedacht und an unsere Verantwortung in Deutschland erinnert.

Sehr geehrter Herr Wündsch, sehr geehrter Herr Reese,
Sehr geehrter Botschafter Prosor,
Sehr geehrter Herr Pfeuffer, liebe Künstlerinnen und Künstler des heutigen Abends,
hochverehrte Margot Friedländer,
Meine Damen und Herren,

1945 war ein Ende. Und doch keins.
Der Staat der Nationalsozialisten war 1945 am Ende. Gott sei Dank!

Aber die Nationalsozialisten und ihr Gedankengift waren leider keineswegs am Ende. Wie die Ratten verließen sie das sinkende Schiff Nazideutschland: Otto von Wächter, Walter Rauff, Klaus Barbie und viele andere. Flohen über Südtirol und Rom. Oft nach Südamerika. Oft mit tatkräftiger Hilfe ausgerechnet aus dem Vatikan. Ein Bischof als Überzeugungstäter. Ein Papst, der angestrengt genug wegschaute. Alles andere als ein Ruhmesblatt für die katholische Kirche.

Davon werden wir gleich noch viel mehr hören. Ich will dem nicht vorgreifen.  Aber doch danken: Der Ilse Holzapfel-Stiftung und dem Berliner Ensemble. Sie rufen uns diese unabgeschlossene Geschichte in Erinnerung anlässlich des Holocaust-Gedenktages.  Ihnen allen möchte ich danken, die Sie hergekommen sind, um sich zu erinnern, um auch stellvertretend die Erinnerung wachzuhalten für die, die sich nicht erinnern wollen. Und danken möchte ich für die Möglichkeit, dass ich zur Eröffnung dieses Abends heute mit hier auf der Bühne stehen darf.

Die Nationalsozialisten haben die große Katastrophe, die Shoah über das jüdische Volk gebracht. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden umgebracht. Ungezählte weitere traumatisiert. Ihr Hass galt politisch Missliebigen ebenso wie Sintizzen und Romnja, Homosexuellen, Zeugen Jehovas oder Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Und diese Aufzählung ist nicht vollständig.

Führende nationalsozialistische Köpfe verschwanden über die Rattenlinien in den Untergrund. Sie waren nie weg, sie hielten sich nur versteckt.  Ebenso verbarg sich das Gedankengift der Nationalsozialisten in den gesellschaftlichen Kanalisationen. Versteckte sich wie die Menschen, die es trugen und weitergaben. Es gärte, das Gift. Es überwinterte.

1948 schreibt Bischof Hudal einen „Gruß übers Meer“ an seine „lieben Landsleute in Argentinien“: „…Nur wenige Jahre werden vergehen und die große Revision der deutschen Geschichtsschreibung der letzten dreißig Jahre wird beginnen…“ Was für ein Abgrund! Daran wird klar: Das Gedankengift der Nationalsozialisten war da und kam wieder. Es gab sie, die Nationalsozialisten, die sich irgendwann so sicher waren, dass sie ihre Decknamen ablegten. Die unverhohlen als diejenigen auftraten, die sie waren: Nazis, Verbrecher.

Viele von ihnen konnten enttarnt, einige auch zur Verantwortung gezogen werden. Gott sei Dank!

Doch nicht nur in Südamerika. Auch im Nachkriegsdeutschland in West wie Ost: Die Nationalsozialisten waren nicht einfach weg. Sie waren weiter in Ämtern und Funktionen, manchmal nur oberflächlich kaschiert. So gern es viele gewollt hätten: Es gab sie nicht, die Stunde Null. Und auch das Gedankengift war nicht am Ende. Es lauerte. Es wagte sich immer wieder ans Tageslicht. 1964 gründet sich in Westdeutschland die NPD. Offen rechtsextrem. In der 1970ern die Wehrsportgruppe Hoffmann, das Oktoberfestattentat 1980. 

Die Nationalsozialisten waren nicht einfach weg. Sie waren weiter in Ämtern und Funktionen, manchmal nur oberflächlich kaschiert.

In der DDR wurde das Gedankengift offiziell totgeschwiegen, und war doch da. Zum Teil von der Stasi gestützt und geschützt. Tief in Aktenschränken vergraben finden sich doch immer wieder Hinweise, wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges: In der 4. Motschützendivision in Mühlhausen taucht im Ausbildungsjahr 1983/84 Hitlers „Mein Kampf“ unter den Auszubildenden auf. Das war kein Einzelfall. Auch mein Vater hatte es, im Regal, versteckt in einem Umschlag des Neuen Deutschland.

Ebenfalls ein Fall von vielen: In der Nacht zum 09. Juli 1983 werden antisemitische Ritzungen auf jüdischen Grabsteinen in Erfurt festgestellt. Keine Presseberichterstattung. Man tat es als „jugendlichen Vandalismus“ ab. Erst Ende der 1980er Jahre erste Versuche, die Dinge beim Namen zu nennen.  Ich kenne das selbst aus meiner Schulzeit. Gegenüber meiner Schule in Gotha, auch da wurden immer wieder jüdische Orte geschändet. 2004 wurde das erstmals zum Thema gemacht. Aber ich weiß es aus meiner Schulzeit: Es war nicht das erste Mal.

Im wiedervereinigten Deutschland Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Unter dem Applaus schaulustiger Zaungäste. Das Gift greift aus in die Mitte der Gesellschaft. Der NSU. Hanau. Kassel. Halle. Orte allergrößter Brutalität.

Das Gedankengift der Nationalsozialisten war nie weg. Es überwinterte im Untergrund, wie Ratten in der Kanalisation. Und immer wenn es seine Gelegenheit gekommen sah, kroch es zurück ans Tageslicht. Bis heute. Denn nach dem 07. Oktober sah das Gedankengift wieder einmal seine Gelegenheit gekommen. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel brüllt der Antisemitismus wieder in Deutschland. Und zwar mit einer Wucht und Dreistheit, wie sie jahre- oder jahrzehntelang undenkbar schien.

Es ist perfide: Am 07. Oktober wurden Jüdinnen und Juden angegriffen, waren die Opfer. Auch hier in Deutschland. Denn viele haben Angehörige und Freunde in Israel, um die sie bangen. Und der Antisemitismus macht sie erneut zu Opfern. Schüchtert ein, wenn Wohnhäuser beschmiert werden. Stellt ihren Alltag infrage, wenn Kinder nur einzeln zur KiTa gebracht werden dürfen. Wenn Fußballtrainings pausieren müssen. Wenn der Gottesdienst nur unter nochmal verschärftem Polizeischutz stattfindet.

Und nicht nur als Antisemitismus tritt das Gedankengift derzeit zutage. Längst nicht mehr nur bei Geheimtreffen, längst schon öffentlich auf Straßen und in Parlamenten. Sie sortieren Menschen nach Klassen. Und sortieren sie dann aus. Sie irrlichtern davon, wer raus soll aus Deutschland. Wollen in Staat und Gesellschaft Vielfalt kappen und alles nach ihrer Einfalt normieren. Sie manipulieren Diskurse. Bereiten der Gewalt das Bett. Und sprechen offen von Machtübernahme.

Es ist unsere ganz besondere Verantwortung als nachgeborene Deutsche: Wir dürfen die Aufmerksamkeit nicht schleifen lassen. Dürfen nicht glauben, das Gedankengift der Nationalsozialisten sei überwunden, nur weil es sich im Untergrund versteckt hält oder weil wir gerade nicht hinschauen wollen. Es hat längst Raum gegriffen, ist eingesickert, in ganz normale Diskurse. Viel zu oft so, dass es auch Gutmeinende und Bescheidwissende erst einmal gleichgültig nicht spüren. Es ist an uns, es ans Licht zu führen, den Scheinwerfer zu richten, Verstecke zu enttarnen. Es ist an uns, die Räume zu besetzen. Sogar Gewalt zu verhindern. 

Das Bewusstsein für diese Gefahr und für unsere Verantwortung wachzuhalten: dafür braucht es den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Und Anlässe wie diesen heute. Und täglich Wachheit. Und täglich Gebete.

Jüdinnen und Juden, jüdisches Leben haben ihren Platz in Deutschland.

Jüdinnen und Juden, jüdisches Leben haben ihren Platz in Deutschland. Es ist ein großes Geschenk an uns, dass sie hier sind, wieder hier sind. Und auch wenn wir oft und zurecht Nie Wieder sagen, passiert es eben doch wieder. Jeden Tag irgendwo in Deutschland, mehrfach. Leben Jüdinnen und Juden in Angst, werden angegriffen, ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Eine Katastrophe. Für Jüdinnen und Juden? Für unser Land. Für Deutschland! 

Es muss unsere Berufung sein, uns an die Seite der Jüdinnen und Juden zu stellen. Hinter sie. Und, wenn nötig, auch vor sie. Nie wieder ist jetzt, sagt man in letzter Zeit oft. Ja: Jetzt ist die Zeit, in der wir uns dem nationalsozialistischen Gedankengift kraftvoll erwehren müssen, weil es auftrumpft. Ausgreift. Angreift: Unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Vielfalt.

Aber wenn wir eins aus der Vergangenheit lernen wollen, dann vielleicht dies: Nie wieder ist nicht nur jetzt. Nie wieder ist jeden Tag. Immer. Denn das Gedankengift verschwindet nicht. Es versteckt sich vielleicht. Es ist an uns, dass es nie wieder nach der Macht greifen kann. Für unser Land kommt es darauf an, das Gedankengift zu bekämpfen. Es geht um uns.

Ich danke Ihnen.