„Ich hatte keine Angst und lasse mir keine Angst machen“
Erstveröffentlichung auf FAZ.NET am 30.07.2023
Frau Bundestagsvizepräsidentin, Sie waren kürzlich auf Tour im Osten. In Dessau gerieten Sie in Bedrängnis. Ein Video davon sorgte für Aufsehen. Da sieht man Sie, wie Sie, geschützt von Polizisten, vor einem Pulk von Leuten stehen, die Sie über ein AfD-Banner hinweg anbrüllen. „Kriegstreiber, Kriegstreiber“, einer ruft „grüner Abfall“. Wie haben Sie das erlebt?
Ich war zehn Tage unterwegs und habe unheimlich viele sehr positive Begegnungen erlebt, der Demokratie gegenüber, unserem Gemeinwesen. Ich habe Leute getroffen, die sich engagieren. Bundesweit diskutiert wurde dann aber nicht, wie in den Dörfern und Städten jeden Tag Demokratie gelebt und verteidigt wird, sondern ein Auftritt von zwanzig oder dreißig Leuten, die laut geschrien haben. Das ärgert mich. Jetzt wird das Bild Ostdeutschlands wieder davon geprägt und nicht von denen, die sich als aktiver Teil der Bürgergesellschaft einsetzen und damit oft sehr erfolgreich sind.
Haben Sie sich von den Brüllenden bedroht gefühlt?
Ich wurde bedroht, aber ich habe mich nicht bedroht gefühlt. Ich stand dort, die anderen kamen sehr dicht, aber ich war gut geschützt. Ich kenne in solchen Situationen keine Angst. Die Erfahrungen der 89er-Revolution prägen. Also, ich hatte keine Angst und lasse mir auch keine Angst machen. Und ich wollte stehen bleiben. Auch als Zeichen an die anderen Demokratinnen und Demokraten: Wir laufen nicht weg, wir überlassen den Platz nicht den anderen.
„Ich wollte stehen bleiben. Auch als Zeichen an die anderen Demokratinnen und Demokraten: Wir laufen nicht weg, wir überlassen den Platz nicht den anderen.“
Wussten Sie vorher, dass diese Leute kommen würden?
Ich wusste, dass mobilisiert war. Das war auch schon vor anderen Veranstaltungen so. Ich spüre aber, dass sich etwas verändert. Die überwiegende Zahl der Menschen ist weiterhin freundlich und zugewandt, aber Beleidigungen in solcher Dimension passieren nicht mehr nur im anonymen Raum des Internets. Mein Briefkasten wurde mit Hundekot beschmiert. Zum ersten Mal angespuckt wurde ich in einem Café in Magdeburg, das war 2015.
Einfach so?
„Das ist für Ihre Flüchtlingspolitik“, hat die Frau gesagt und mir ins Gesicht gespuckt.
Was war das für eine Frau?
Auf den ersten Blick: gutbürgerlich. Als sie auf mich zukam, dachte ich, die ist wahrscheinlich aus der Kirche, von den Grünen, vielleicht eine Unternehmerin. Es war niemand, dem man Aggressivität auch nur im Entferntesten angesehen hätte.
Waren Sie privat in dem Café?
Ich war auf Wahlkampftour in der Stadt, aber niemand wusste, dass ich in dem Café sitzen würde. Die Frau hat mich zufällig gesehen. Meistens ist meine Erfahrung jedoch: Pöbeleien oder Beleidigungen sind organisiert. Wenn mich spontan Menschen treffen, sind die Reaktionen höflich: mal unterstützend, mal fragend, mal mit Kritik. Auch in Dessau war das so. Dort saßen nebenan Menschen auf der Terrasse eines Restaurants. Sie haben das Gebrüll und mein Dagegenhalten mitbekommen. Sie zeigten mir ihren Daumen nach oben, und als ich auf dem Rückweg wieder vorbeikam, sagten sie: Wie gut, dass Sie da sind, wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Es gab in Dessau beide Seiten, und die Anständigen waren mehr.
Wenn die Leute Ihnen etwas Konkretes vorwerfen, was nennen sie dann? In Dessau riefen sie „Kriegstreiber“.
Ja, auf ihren Plakaten stand: „Grüne an die Ostfront“. Ich habe versucht, mit ihnen zu reden. Ein Anführer mit Megafon brüllte „grüner Abfall“. Als ich fragte „Was wollt ihr wissen?“, waren sie total verdattert. Einer rief: „Jetzt erklären Sie uns doch mal Ihre grüne Politik.“ Okay. Ich fing an: „Wir stehen hier an der Elbe, und mich interessiert . . .“ Da haben schon die ersten gerufen: „Es gibt keinen Klimawandel!“ Ich hatte nur von Elbe gesprochen. Dann sagte ich: „Es wird uns hier in Ostdeutschland wirtschaftlich ein Riesenproblem bereiten, wenn keine Fachkräfte kommen. Wir brauchen die.“ Da ging es wieder los. Ein paar ältere Damen aus der Gruppe wollten, dass ich ausreden kann, fanden aber kein Gehör. Es ging nur um Stichworte zum Ausrasten. Die Klimakrise gibt’s für sie nicht. Keinen Fachkräftemangel. Und erst recht keine Einwanderung. Alles andere wollten sie nicht hören.
Finden Sie es entmutigend, ein Gespräch anzubieten und zu merken, dass schon Stichwörter reichen, um es wieder zu beenden?
Nein. Man weiß ja nie, ob Leute dabei sind, die wirklich reden wollen. Ein paar Tage vorher war es so. Zu einer Veranstaltung kamen welche, die das Bundeskriminalamt im Vorfeld als potentielle Störer identifiziert hatte, aber es stellte sich dann heraus, dass die sich nur Sorgen machten um die Pflegekosten für die demente, betagte Mutter, und es ging ihnen um einen Windpark, der an einem Hang entstehen sollte. Sie fürchteten, dass der Hang dann runterkommt.
Wenn Sie sagen, so etwas passiert eher im Osten, und wenn Sie die Umfragen aus den vergangenen Wochen sehen, in denen die AfD im Osten neue Rekordwerte erzielt – was unterscheidet diese Menschen von Menschen zum Beispiel in Münster oder in der schwäbischen Provinz?
Mit Münster haben Sie wahrscheinlich recht. Mit der schwäbischen Provinz wäre ich vorsichtig. Erst in diesen Tagen haben wir eine Umfrage gesehen, wonach 19 Prozent in Baden-Württemberg AfD wählen würden. Dort wird das kaum so soziale Ursachen haben wie in Ostdeutschland. Und wenn man sieht, wie Herr Aiwanger in Erding vor Tausenden gesprochen hat, würde ich sagen: Das ist auch, was in Dessau gebrüllt wurde. Es ist nicht nur der Osten. Im Osten braucht es ein anderes Verständnis: 30 Jahre Veränderung macht was, fehlende Anerkennung kommt dazu. Ich glaube, als Thüringerin habe ich einen anderen Zugang als westdeutsche Kollegen. Ich kenne die Sprache, ich kenne die Geschichten, ich weiß, welches Radioprogramm man in der DDR gehört hat und welche Schallplatten man kaufen konnte. Vielleicht ist das eine Aufgabe, die mir jetzt gerade zufällt. Das ist ja manchmal so im Leben.
Können Sie viele zurückgewinnen?
Es gibt Leute, bei denen können wir das nicht mehr. Und gleichzeitig gibt es bei etwas über dreißig Prozent für die AfD in Thüringen nicht dreißig Prozent, die Nazis wählen wollen. Was sie umtreibt und wie man darauf reagieren kann, ist doch relevant. Es gibt eine Sache, die habe ich in allen Gesprächen auf meiner Tour gespürt. Sehr viele haben das Gefühl, es gibt zu viel Veränderung. Für diese Veränderungsmüdigkeit habe ich Verständnis, ich kann ihr leider nicht nachgeben. Die Klimakrise, die globale technische Entwicklung warten nicht. Um neuen Wohlstand zu sichern, müssen wir jetzt vorsorgen. Da führt kein Weg dran vorbei. Daneben gibt es Identitätsfragen: Wer sind wir eigentlich als Deutsche, gerade im Osten, wie werden wir gesehen, und wie sehen wir uns selber? Westdeutschland hatte den Osten ja ein bisschen als Anschlussgebiet betrachtet und gedacht, das wird schon klappen mit der Demokratie. Wenn man heute im Osten einen Nachbarschaftsstreit hat, dann wird der fast immer von einem westdeutschen Richter entschieden. Die sind in den Neunzigern jung gekommen, und wenn jetzt eine Stelle frei wird, dann kennen sie vermutlich jemanden aus dem Westen.
„Um neuen Wohlstand zu sichern, müssen wir jetzt vorsorgen. Da führt kein Weg dran vorbei.“
Wie halten Sie sich selbst motiviert?
Ich fand politische Veränderungen immer etwas Großartiges. Als Studentin habe ich mich der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen. Mit der friedlichen Revolution wollte ich nicht einfach den Anschluss an Westdeutschland, sondern war für den Dritten Weg: gemeinsam etwas Neues schaffen, eine gemeinsame Verfassung, vielleicht eine gemeinsame Nationalhymne. Eine gemeinsame Identität. Mir wird langweilig, wenn ich nicht über Veränderung nachdenken kann, weil ich überzeugt bin: Eine Gesellschaft muss in Bewegung bleiben, wenn sie eine lebenswerte Zukunft bewahren will. Im Augenblick leben wir ja in einer Phase der dauernden Krisenbewältigung. Die Frage „Wie kann man diejenigen einbeziehen, die von Veränderungen betroffen sind?“ kommt mir oft zu kurz. Es gibt demokratische Verfahren, die gut helfen können. Bürgerräte etwa. Aber man muss auch Fehler vermeiden. Die Debatte im vergangenen halben Jahr über Heizungen war eine unnötige Überforderung. Das hat die Leute kirre gemacht. Das hätte man früher und verständnisvoller klären müssen.
Und wie läuft das mit der Abgrenzung zur AfD?
Wo sie verankert ist, gerade auf dem Land, ist das im Alltag schwierig. Der AfD-Wähler ist ja vielleicht der Nachbar, und mit dem muss ich mich unterhalten können, wie wir das mit der Hecke machen oder wenn das Paket angenommen werden muss. Am Ende gehen die Kinder zusammen in die Schule. Handwerker haben mir berichtet, dass sie Sorge haben, offen Position zu beziehen und damit Aufträge zu verlieren. Andererseits warnen Unternehmen ja gerade vor der AfD, weil sie wissen, dass deren Politik – EU-Zerstörung, Ablehnung von Fachkräften – den Wirtschaftsstandort kaputtmacht. Für politisch Verantwortliche muss überall klar sein: Es kann keine Zusammenarbeit geben, Mehrheiten für die Gestaltung der Kommune können und müssen unter den demokratischen Parteien geschaffen werden.
Kurz bevor Angela Merkel aus dem Amt geschieden ist, hat sie plötzlich in einer Rede über ihre ostdeutsche Biographie gesprochen. Für manche war das recht herbe, was sie dort über ihre Begegnungen mit der Westgesellschaft zu hören bekamen. Tragen Sie auch so etwas mit sich herum?
Herkunftslos war ich nicht. Ich habe mich allerdings auch nicht als die Ostbeauftragte der Bündnisgrünen verstanden. Ich war und wollte Spitzenkandidatin für ganz Deutschland sein. Gleichwohl war früher mit mir selbstverständlich in allen parteiinternen Runden stets mindestens eine Ostdeutsche. Das ist im Augenblick nicht mehr so. In den engeren Spitzenrunden sitzen jetzt Grüne aus Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Hessen. Deswegen rede ich wieder mehr öffentlich darüber. Auch nach 30 Jahren braucht es offenbar zwischen Ost und West immer noch Übersetzungen. Vielleicht kann man sagen, dass ich Ost- und Westdeutsch gleichermaßen als Muttersprache spreche. Das hilft. Den einen glaubwürdig sagen zu können, dass die Westdeutschen nicht alles Besserwisser sind. Und im Westen erklären, dass nicht alle Ostdeutschen nur meckern oder Neonazi-Freunde sind. Das Hin- und Hersprechen, Werben, im besten Fall Voneinanderprofitieren ist relevant für eine Demokratie, die stabil bleiben soll.
Das Gespräch führten Peter Carstens und Friederike Haupt.
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