„Ich wollte nicht die Zuständige für alles Ostdeutsche sein“
Interview geführt von Marina Kombarki und Serafin Reiber. Erstveröffentlichung in DER SPIEGEL Nr. 18/2023 am 29.04.2023
Die Thüringerin Katrin Göring-Eckardt, 56, über unterschätzte Ostdeutsche, überhebliche Westdeutsche und die Schwäche ihrer Partei im Osten.
Frau Göring-Eckardt, ist es ein Stigma, Ostdeutsche zu sein?
Viele empfinden es so, ich nicht.
Laut Springer-Chef Mathias Döpfner sind Ostdeutsche Kommunisten oder Faschisten, »die ossis werden nie Demokraten«, schrieb er. Ein Einzelfall oder ein noch immer weit verbreitetes Vorurteil?
Herr Döpfner ist kein Einzelfall. Vorurteile sind weitverbreitet. Ich kenne Ostdeutsche, die nicht gleich sagen wollen, woher sie kommen, weil es dann heißt: Ah, der Osten, da, wo die Nazis gewählt werden und die Demokratie nicht so recht funktioniert. Das ist infam und offenbart die mangelnde Kenntnis vieler Westdeutscher. Ja, es gibt Orte, da erreicht die AfD 40 Prozent. Aber: Die Mehrheit im Osten wählt demokratisch. Wir dürfen den Osten nicht als Problemfall betrachten, da passiert auch viel Gutes. Daran muss ich auch meine Partei gelegentlich erinnern.
Was übersehen die Grünen?
Im Osten mussten sich alle neu orientieren. Das war eine oft harte, in jedem Fall lehrreiche Erfahrung. Von diesen Lebensgeschichten können wir heute in ganz Deutschland lernen, zumal für die großen ökologischen Transformationen, die jetzt anstehen. Aber auch heute werden Ostdeutsche selten gefragt, egal ob sie gescheitert oder erfolgreich, Unternehmerin oder Hausmeister sind.
Die Grünen feiern demnächst den 30. Jahrestag ihrer Vereinigung mit Bündnis 90, das aus der ostdeutschen Bürgerbewegung hervorgegangen war. Das ostdeutsche Erbe der Grünen lag lange verschüttet, im Jahr 2019 spielte es plötzlich eine Rolle, als Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen anstanden. Haben die Grünen ein instrumentelles Verhältnis zum Osten?
Die stärkere Hinwendung zum Osten hatte gewiss auch einen machtpolitischen Aspekt. Vor allem aber haben die damaligen Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock bei der Arbeit am neuen Grundsatzprogramm den Charakter der Grünen als Bündnispartei wiederbelebt. So wie damals in der ostdeutschen Bürgerbewegung braucht es auch heute Partner, um die Gesellschaft zu transformieren.
Im Westen sind die Grünen etabliert, stellen Bürgermeister und sogar Landräte, im Osten sind sie außerhalb studentisch geprägter Großstädte fast unsichtbar. Was machen Sie falsch?
Die Schwäche der Grünen hat auch soziodemografische Gründe: kaum große Städte, die Abwanderung kreativer Leute, gerade in ländlichen Gebieten eine männliche Bevölkerung, die nicht grün wählt. Hinzu kommt: Die Umweltbelastung hat im Vergleich zu DDR-Zeiten stark abgenommen. Als ich Kind war, stank die Luft nach den Braunkohleöfen, und in den Flüssen sollte man lieber nicht baden; heute erscheinen vielen dort Umweltprobleme und Klimakrise weniger drängend. Zudem wird unserer Partei die Abwanderung der Solarindustrie aus dem Osten angelastet, obwohl wir damals nicht regiert haben.
Die Grünen haben also keinen Anteil an ihrer Schwäche im Osten?
Natürlich hat die Partei eigene Fehler gemacht. Dass 1998 ausgerechnet auf dem Bundesparteitag in Magdeburg beschlossen wurde, fünf D-Mark für den Liter Benzin zu fordern, just als sich viele Ostdeutsche zum ersten Mal ein Auto leisten konnten, war nicht besonders schlau. Auch hätte die gesamte Partei mehr vor Ort sein sollen. Wir haben zugelassen, dass man uns als westdeutsche Partei wahrnimmt. Wir wollen ein zweites Mal Anlauf aufs Kanzleramt nehmen. Das geht nicht ohne Ostdeutschland.
Laut einer Umfrage sind 91 Prozent der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern gegen das vom grünen Vizekanzler Robert Habeck forcierte Verbot fossil betriebener Heizungen, die Sorge vor finanzieller Überforderung ist groß. Fehlt es Ihrer Partei an Sensibilität für Ostdeutschland?
Moment. Der Vorschlag kommt nicht nur von Robert Habeck, sondern auch von SPD-Bauministerin Klara Geywitz. Sie ist Ostdeutsche. Aber ja, bei jedem Vorhaben müssen wir gerade als Bündnisgrüne fragen: Was bedeutet das für Ostdeutschland? Es stimmt, dort haben viele Leute wenig Geld und besitzen dennoch ein Haus. Die Verunsicherung ist groß. Natürlich kann es keine ostdeutsche Sonderheizungszone geben, aber wir müssen eine Lösung finden. Die einkommensabhängige Förderung, wie Robert Habeck sie wollte, hätte viele entlastet. Finanzminister Christian Lindner hat das verhindert. Über eine angemessene Unterstützung muss jetzt im parlamentarischen Verfahren geredet werden.
Als Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin Ihrer Partei bei Bundestagswahlen haben Sie es vermieden, Ihre ostdeutsche Herkunft in den Vordergrund zu rücken. Warum?
Ich wollte nicht die Zuständige für alles Ostdeutsche sein. Ich wollte Fraktionsvorsitzende für die gesamte Fraktion und Spitzenkandidatin für die gesamte Partei im gesamten Land sein. Wenn ich von strukturschwachen Gebieten sprach, habe ich über Gera und Gelsenkirchen geredet. Aber ich habe lange gedacht, die tatsächliche Einheit kommt mit der Zeit und die Herkunft spielt keine Rolle mehr. Da habe ich mich getäuscht.
Wie kommt es, dass man bei Ihnen keinen thüringischen Dialekt heraushört?
Mit 16 Jahren nahm ich mich auf Kassette auf, weil ich bei einem Rezitationswettbewerb mitmachen wollte. Als ich mich hörte, fand ich meinen Dialekt ziemlich schrecklich. Ein halbes Jahr später sprach ich Hochdeutsch.
Standen Sie während der Wende kurz vor dem Eintritt in die CDU?
Nein! Im Gegenteil. Wie kommen Sie darauf?
Zu Beginn Ihrer politischen Laufbahn waren Sie bei der DDR-Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch. Dort war auch Angela Merkel.
Es waren wilde Zeiten, direkt nach der friedlichen Revolution. Da probierte man vieles aus. Wer in welcher Bürgerbewegung war, lag häufig am Umfeld. Und das war bei mir nun mal ein dörflich-kirchliches. Anfangs hatte ich tatsächlich das Gefühl, beim Demokratischen Aufbruch gehe es mehr als bei den anderen Bürgerbewegungen um Politik, die anpackt. Doch als man beschloss, sich der »Allianz für Deutschland« – und damit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl – anzuschließen, war es für mich vorbei.
Sie stammen aus einem bürgerlichen Elternhaus, Ihr Partner war Pfarrer – Ihre Herkunft passte doch sehr viel besser zur Union als zu den alternativen West-Grünen.
Nein. Meine politische Heimat war Bündnis 90. Der Union ging es nicht um starke Menschenrechte, Gleichstellung oder den Schutz von Minderheiten. Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler im Osten sahen sich als Bürgerinnen und Bürger mit eigenen Rechten und in Verantwortung für ihr Land. Wie die klassischen Citoyens. Mit unserem Ansatz »Bürger für Bürger« sahen wir den authentischen Partner bei den Grünen.
Sie waren Gründungsmitglied der Initiative »Demokratie Jetzt«, die Vereinigung mit der Bundesrepublik lehnten Sie zunächst ab. Warum?
Ich war nicht gegen die Vereinigung, aber mir ging das zu schnell. Ich war geprägt von der friedlichen Revolution. Die hatte so eine Kraft! Ich hätte mir gewünscht, dass wir als Ostdeutsche erst einmal klären, wie unser Land sein soll – um uns dann auf Augenhöhe mit Westdeutschland wiederzuvereinigen.
Sie verhandelten die Vereinigung von Grünen und dem ostdeutschen Bündnis 90. Was war Ihr erster Eindruck von den Grünen?
Den hatte ich aus dem Fernsehen. Ich werde nie vergessen, wie ich 1983 beim Einzug der Grünen in den westdeutschen Bundestag im Wohnzimmer saß und dachte: Das geht also. Man kann in einem freien Land in ein Parlament einziehen. Nicht in die Volkskammer, in ein richtiges Parlament. Später, auf der Suche nach meiner politischen Heimat, traf ich in Erfurt Grüne. Da waren bärtige Männer, die länglich darüber diskutierten, ob sie für Wahlplakate Nägel in Bäume schlagen dürfen. Mir war das fremd. Später haben wir Verhandlungen geführt, die nicht einfach waren.
Wie lief das ab?
Wir von Bündnis 90 waren gut vorbereitet, es gab mehrere Verhandlungsrunden in Berlin, Leipzig, bei Bonn. Bündnis 90 und die Grünen haben geschafft, was die Bundesrepublik nicht vermocht hatte. Wir haben uns nicht nur vereinigt, wir haben gemeinsam etwas Neues geschaffen. Da prallten auch Unterschiede aufeinander. Bei der Gleichstellung der Frauen waren wir in vielem im Osten deutlich weiter als im Westen. Und wir waren eine Bewegungspartei, auf der Suche nach Verbündeten in der Gesellschaft, wir wollten regieren. Die West-Grünen waren jedenfalls nicht alle so weit.
Zur Bundestagswahl 1990 traten die West-Grünen und die im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Bürgerrechtsgruppen noch getrennt an. Die Grünen scheiterten an der Fünfprozenthürde, Bündnis 90 zog mit acht Abgeordneten in den Bundestag ein. Waren die West-Grünen Ihnen dankbar – oder überwog der Neid?
Die Dankbarkeit kam erst viel später. Schließlich haben diese acht eine großartige Leistung vollbracht, die bis heute fortwirkt. Für die westdeutschen Grünen war das ein riesiger Einschnitt. Die verloren plötzlich alles, waren desorientiert, dieser ganze Tross an Mitarbeiterinnen und Abgeordneten in Bonn hatte keine Aufgabe mehr. Und dann kamen diese acht Ostdeutschen, die es anders machen wollten. Es war kein Neid. Sie mussten sich erst sammeln.
Die West-Grünen waren mit dem Slogan »Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter« angetreten …
Das fand ich total panne! Das kann doch nicht wahr sein, dachten wir uns. Sie müssen sich vorstellen: Wir hatten die DDR-Regierung abgelöst, unter der wir lange gelitten hatten. Viele standen auf Internierungslisten, hatten mit Kerzen in der Hand demonstriert, gewaltfrei, und etwas wirklich Großes erreicht. Dieses Plakat war blanker Hohn.
Joschka Fischer war damals schon eine Leitfigur der Grünen. War er für Sie Widersacher oder Verbündeter?
Er war vor allem weit weg. Wir haben nicht zusammen verhandelt. Er blieb der Promi aus dem Fernsehen. Aber Joschka war ja klug und sah die Machtfrage. Ihm war klar, dass man den Osten hinzugewinnen muss. Sonst wäre die grüne Partei des Westens weg gewesen.
Die Grünen forderten lange die »Anerkennung« der DDR. Hingen in den frühen Neunzigerjahren bei den West-Grünen noch viele dem Ideal einer sozialistischen Gesellschaft an?
Wir saßen da auch Leuten aus dem Westen gegenüber, die den Sozialismus eine super Idee fanden und die DDR ernsthaft für das bessere Deutschland hielten. Viele standen den Vereinigten Staaten sehr skeptisch gegenüber. Das hat mich irritiert. Für mich waren die USA ein Symbol der Freiheit. Ich habe mit 13 Jahren angefangen, Geld zu sparen, um als Rentnerin einmal nach New York reisen zu können, wenn eine Urlaubsausreise erlaubt gewesen wäre. Ich war kein Fan des Kapitalismus. Ich wollte ja das Gute aus dem Sozialismus mitnehmen. Verklären wollte ich ihn nicht.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke, in Dessau geboren, erzählte einmal, wie ihr Kreisverband einen defekten Kopierer von den Grünen aus Bielefeld geschenkt bekam. Welche »Geschenke« haben Sie erhalten?
Kopierer haben wir auch bekommen. Unsere haben funktioniert. Wir erhielten auch viel menschliche Unterstützung, etwa von den bärtigen Herren, denen ich in Erfurt begegnet war. Manche wollten uns einfach helfen, andere wollten uns eher belehren. Rückblickend haben uns beide weitergebracht. Die einen mit dem Wissen, die anderen mit Empathie. Wir fanden es doof, belehrt zu werden, aber wir haben so auch schnell manche Abgründe des politischen Systems verstanden.
In einem offenen Brief forderten Sie schon 1992, nach Ausbruch des Bosnienkriegs, ein Ende der pazifistischen Zurückhaltung und plädierten für deutsche Blauhelmsoldaten im Westbalkan. Welchen Anteil hat Bündnis 90 am späteren Ja der Grünen zu Bundeswehreinsätzen?
Wir haben eine abwägende, ideologieferne Haltung in die Partei getragen. Der Schutz von Menschenrechten mit militärischer Gewalt ist ein Dilemma. Mit Dilemmata kannten wir uns im Osten aus. Wir kamen aus einer Diktatur und wussten, es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Ohne das Bündnis 90 hätten die Grünen wohl sehr viel länger für eine differenzierte Haltung zu Militäreinsätzen gebraucht.
Hat Bündnis 90 den realpolitischen Flügel der Grünen gestärkt?
Wir wollten nicht Teil von Flügeln sein. Wir haben die Realisten gestärkt: all jene, die davon überzeugt waren, dass Ideologie nicht weiterhilft. Mit unseren Positionen lagen wir auch quer zur Flügellogik – etwa in Gerechtigkeitsfragen. Da waren wir den Linken in der Partei näher.
Trotzdem warben auch Sie unter Rot-Grün für Hartz IV und die Agenda 2010. Waren Ihnen die 2004 im Osten einsetzenden »Montagsdemonstrationen« gegen den Sozialabbau egal?
Überhaupt nicht. Die Arbeitslosenzahlen waren dramatisch hoch, besonders im Osten. Ich wollte Menschen einen niedrigschwelligen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen, dazu stehe ich. Aber die Arbeitsämter waren überfordert. Bis neue Arbeitsplätze entstehen würden, vergingen viele Jahre. Das habe ich zu spät erkannt. Hinzu kam, dass die geplanten Reformen auf Druck der Union im Bundesrat um harte Sanktionen ergänzt wurden. Sie richteten sich gegen die Betroffenen – und dennoch habe ich diesen schrecklichen Kompromiss verteidigt. Ich glaubte, das sei mein Job als Fraktionsvorsitzende. Das war falsch.
Welchen Teil der Reformen nehmen Sie sich besonders übel?
Das Schlimmste war, das Geld für Schulessen in den Hartz-IV-Satz zu integrieren. Ich wollte die Stigmatisierung von Kindern, die für das Essen einen Schein vom Amt abgeben mussten, beenden. Es passierte genau das Gegenteil. Innerhalb kürzester Zeit wurden sehr viele Kinder vom Schulessen abgemeldet und so Kinder erst recht ausgegrenzt. Das treibt mich bis heute um.
Hat Sie die Wut der protestierenden Ostdeutschen getroffen?
Es war nicht der ganze Osten auf der Straße. Auch dort war vielen klar, dass der Arbeitsmarkt reformiert werden musste. Aber vieles von dem, was ich wollte, trat nicht ein. Stattdessen haben die Reformen viele Menschen in eine schwierige Lage gebracht. Ich hätte lauter sagen müssen, dass für viele der Wandel nicht tragbar war. Mein Schweigen dazu liegt mir bis heute auf der Seele.
Die Grünen gelten als West-Partei. Werden Sie das Image jemals los?
Wir wollen es versuchen. Ich möchte mehr Aufmerksamkeit auf die soziale Frage im Osten lenken. Und ich will zeigen: Es gibt dort so viel Potenzial, so viele motivierte, gut gelaunte Leute – denen sollten wir zuhören. Mehr mit Ostdeutschen reden als über sie. Und ja, dafür stelle ich auch meine eigene ostdeutsche Herkunft wieder stärker heraus, damit die Leute wissen: Ich bin auch von hier, ich bin ansprechbar. Heute gilt erst recht: Gemeinsam die Transformation schaffen, Ost und West.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.