„Man darf die Menschen weder belehren noch ihnen die Welt erklären“
Interview mit Katrin Göring-Eckardt geführt von Jana Hensel. Erstveröffentlichung auf zeit.de am 03.10.2023
Die AfD sei zu einem gesamtdeutschen Thema geworden, sagt Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Die Gesellschaft als Ganzes sei gefragt, dagegen aufzustehen. Katrin Göring-Eckardt ist seit 2021 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, ein Amt, das sie bereits von 2005 bis 2013 innehatte. Von 2013 bis 2021 war sie neben Anton Hofreiter Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion.
ZEIT ONLINE: Frau Göring-Eckardt, heute feiern wir den 3. Oktober. Ist Ihnen denn in diesem Jahr wirklich
zum Feiern zumute?
Katrin Göring-Eckardt: Natürlich! Der Tag der Wiedervereinigung ist ein besonderer Tag zur Freude. Ich denke dann immer: Es ist doch unglaublich, was wir 1989 geschafft haben. Mit der friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer. Wir leben seit mehr als 30 Jahren in Freiheit und Demokratie – und in einem Land, in dem man alles sagen kann. Wir feiern am 3. Oktober die Einheit, aber vor allem anderen die Freiheit.
ZEIT ONLINE: Die Grüne müssen derzeit viel Hass und Häme ertragen. Katharina Schulze ist im bayrischen Landtagswahlkampf mit einem Stein beworfen worden. Es gab Proteste, als Robert Habeck sich ins Goldene Buch der Stadt Wernigerode eintragen wollte. Auch Sie wurden auf Ihrer Sommerreise durch den Osten angepöbelt. Erinnern Sie sich an eine Zeit, in der die Grünen je so verhasst waren?
Göring-Eckardt: Lauten Protest gab es auch 1998, nachdem wir auf dem Magdeburger Parteitag für zehn Jahre später eine Benzinpreiserhöhung auf fünf Mark je Liter beschlossen hatten. Ich weiß noch, dass ich gefürchtet hatte, wie das bei uns ankommen musste. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung hatten sich die meisten gerade neue Autos gekauft, wollten ihre Westautos genießen und da kamen Grüne und wollten ihnen das madig machen. Es hagelte damals überall Protest, aber im Osten war er besonders stark.
ZEIT ONLINE: Sie haben also eine Art Déjà-vu?
Göring-Eckardt: Ja und nein. Denn was es damals nicht gab, sind diese persönlichen Gewaltandrohungen, die massiven Beleidigungen, die es heute gibt. Durch die sozialen Netzwerke hat sich der Hass noch einmal potenziert. Man muss immer damit rechnen, dass ein Stein fliegt, eine tote Maus im Briefkasten liegt, man
angepöbelt oder persönlich angegangen wird.
ZEIT ONLINE: Hohe Zustimmungswerte für die AfD waren lange ein ostdeutsches Phänomen. Nun erreicht die Partei auch in Baden-Württemberg 20 Prozent. Radikalisiert sich der Westen gerade in einem ähnlichen Maße, wie wir es bisher nur aus dem Osten kannten?
Göring-Eckardt: Die AfD wird gerade zu einem gesamtdeutschen Thema, das stimmt. Im Osten ist ihre Destruktivität bereits ein riesengroßes Problem und nun sehen sich auch Städte und Bundesländer im Westen mit den Demokratieverächtern konfrontiert.
ZEIT ONLINE: Empfinden Sie dabei so etwas wie Schadenfreude?
Göring-Eckardt: Nein, natürlich nicht. Mich besorgt das. Die Zeit, in der man sagen konnte, nur die Ostdeutschen hätten ein Problem mit autoritären Einstellungsmustern, geht zu Ende. Unsere Gesellschaft im Ganzen ist gefragt, für die Demokratie aufzustehen.
„Unsere Gesellschaft im Ganzen ist gefragt, für die Demokratie aufzustehen.“
ZEIT ONLINE: Was bedeutet das?
Göring-Eckardt: Wir müssen die gesellschaftliche Spaltung stoppen. Ost- und Westdeutsch müssen und werden nicht gleich sein, ebenso wenig Nord und Süd, Jung und Alt oder migrantisch und nicht-migrantisch. Unterschiede machen uns aus. Aber wenn manche die aktuellen Spaltungen weiter verschärfen, schadet das nicht nur unserer Demokratie im Allgemeinen, sondern ganz konkret auch unserem wirtschaftlichen Wohlstand. Stattdessen sollten wir mit Blick auf den Fachkräftemangel doch die Chancen nutzen. Wenn Friedrich Merz weiter unser Land schlechtredet, werden all die Fachkräfte, die wir brauchen, nicht kommen.
Ablehnen und anwerben passt nicht zusammen.
ZEIT ONLINE: Friedrich Merz hat die Grünen auch zum Hauptgegner der CDU erklärt – und nicht die AfD.
Göring-Eckardt: Ja und es dauert mich und ich verstehe es nicht. In Zeiten, in denen die Demokraten am meisten zusammenhalten müssten – auch als Lehre aus der Geschichte – erleben wir ein aufeinander Zeigen statt aufeinander Zugehen. Wo bleibt die staatspolitische Tradition der Christdemokraten von Adenauer, Kohl und Merkel? In unserem Land sind viele verunsichert, überfordert, sorgenvoll. Natürlich ist politischer Streit richtig, auch Zuspitzung, aber politische Feindschaft, das faktenferne Draufhauen, die oft bewusst missverstehende Unterstellung hilft doch nur den Populisten, die das Land aus dem Gleichgewicht bringen, Chaos herbeireden und herbeiführen wollen. Aber es gibt ja glücklicherweise auch die anderen in der Union, die zeigen, wie es geht: Daniel Günther, Hendrik Wüst oder Boris Rhein zum Beispiel.
„Natürlich ist politischer Streit richtig, auch Zuspitzung, aber politische Feindschaft, das faktenferne Draufhauen, die oft bewusst missverstehende Unterstellung hilft doch nur den Populisten.“
ZEIT ONLINE: Warum versuchen sich nun auch demokratische Parteien immer stärker stark von den Grünen abzugrenzen?
Göring-Eckardt: Weil Bündnisgrüne am stärksten dafürstehen, dass grundlegende Veränderungen notwendig sind, um unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu erhalten. Wer dagegen der falschen Vorstellung erliegt, früher sei ja alles besser gewesen – was natürlich nicht stimmt – und deshalb möglichst alle Räder zurückdrehen will, der hat in uns einfach einen Schuldigen gefunden.
ZEIT ONLINE: Aber wenn es so viel Widerstand gegen Ihre Politik gibt, können die Grünen wohl doch keine
Volkspartei werden?
Göring-Eckardt: Das sind wir schon. Wir regieren in zehn Ländern und im Bund mit. Und Zukunft kommt, ob Deutschland will oder nicht. Das wird Veränderungen so oder so bringen. Wir sind aktuell die Einzigen, die das ehrlich an- und aussprechen und rechtzeitig vorsorgen wollen. Wir sollten dabei allerdings künftig immer genau überlegen, in welchen auch unterschiedlichen Lebenssituationen die Menschen sind, für die wir unsere Gesetze machen, und wie wir sie vom notwendigen Kurs überzeugen können. Das Heizungsgesetz trifft eben auch Leute auf dem Land mit kleinen Einkommen. Und gerade den Ostdeutschen, die diese Häuser geerbt haben, kann man nicht sagen: Mit dem Einbau einer Wärmepumpe steigert ihr den Wert des Hauses. Die wollen im Haus wohnen und irgendwie klarkommen. Da sind wir in der Sache und in der Kommunikation den Problemen zu sehr hinterhergelaufen.
ZEIT ONLINE: Liegt es wirklich nur an einer schlechten Kommunikation?
Göring-Eckardt: Sicher nicht. Unsere Gesellschaft steht momentan unter einem extremen Druck. Viele fragen sich, wo bleibe ich? Wo meine Familie? Meine Kinder? Das verstehe ich. Und Veränderungen sind zusätzlicher Stress. Natürlich wollen fast alle, dass unsere Kinder noch auf einer Erde leben können, die
bewohnbar ist. Aber nicht alle können schon akzeptieren, dass es dafür nicht so weitergehen kann. Unbegrenzt Fleisch essen, Diesel verfahren, Öl verfeuern wird immer teurer und immer schlechter für unsere Lebensgrundlagen. Es reicht nicht mehr allgemein dafür zu sein, dass sich irgendwann was ändert, es ist die
Zeit, dass sich was ändert. Und das stresst.
„Es reicht nicht mehr allgemein dafür zu sein, dass sich irgendwann was ändert, es ist die Zeit, dass sich was ändert.“
ZEIT ONLINE: Machen wir es konkret: Gerade auf dem Land wird die Politik der Grünen oft kritisch gesehen. Was antworten Sie diesen Menschen?
Göring-Eckardt: Erst mal: Ich gehe hin und höre zu. Viele wollen ja ihre Sorgen loswerden und ihre Kritik. Und wenn man mit ihnen spricht, überzeugt man nicht gleich alle, aber schafft die Basis für Vertrauen. Man muss mit den Menschen reden, darf sie weder belehren noch ihnen die Welt erklären. Das sage ich auch zu den Leuten in unserer Fraktion: Fahrt hin und hört euch an, was die Leute umtreibt. So wie Robert Habeck das gemacht hat. Als er im vergangenen Jahr in Schwedt war, da hat er mächtigen Gegenwind erlebt, aber er hat den Menschen zugehört. Bündnisgrüne müssen mehr in Klein- und Mittelstädte gehen und nicht nur im Großstadtmilieu bleiben.
ZEIT ONLINE: Robert Habeck verteilt gerade Milliarden an Subventionen an ostdeutsche Unternehmen. Wirklich anzukommen scheint das bei den Wählern aber nicht. Warum dringen die Grünen hier nicht durch?
Göring-Eckardt: Im Moment tut sich tatsächlich viel für den Osten: Angleichung der Rentenwerte, vom höheren Mindestlohn profitieren besonders ostdeutsche Beschäftigte, dazu Millionen-Förderungen für Industriestandorte. Die Raffinerie in Schwedt wurde gerettet, auch dem Chemiepark Leuna geht es wieder besser. Doch gerade im Osten gilt: Gutes wird mit den Regierungschefs verbunden, Schlechtes mit den Grünen. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, der mit den Bündnisgrünen regiert, zum Beispiel, redet ständig darüber, was die Grünen alles verhindern wollen und kaum darüber, wie viel Geld die
Bundesregierung in Sachsen gerade investiert. Wir sind dort aber natürlich nicht so groß wie die Christdemokraten und haben es schwerer, dagegen anzureden.
ZEIT ONLINE: Sie sind aktuell stellvertretende Bundestagspräsidentin. Wären Sie gern etwas anderes, vielleicht Ministerin geworden?
Göring-Eckardt: Ich bin mehr als zufrieden mit dem, was ich jetzt machen darf. Auch wenn ich mir zuerst was anders vorgestellt habe. Aber der liebe Gott ist manchmal klüger als man selber. Jetzt kann ich mich eben zum Beispiel für Ostdeutschland viel mehr einsetzen als in jeder anderen Funktion. Mir fällt gerade eine Aufgabe zu, von der ich nicht dachte, dass sie in dieser Vehemenz noch mal gebraucht werden würde.
ZEIT ONLINE: Nächstes Jahr stehen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg drei Landtagswahlen an. Im Moment führt die AfD in allen diesen Ländern die Umfragen an. Haben wir bald eine Landesregierung mit AfD-Beteiligung?
Göring-Eckardt: Bei den Landtagswahlen gelingt hoffentlich, was wir gerade in Nordhausen erlebt haben. Der parteilose Bürgermeisterkandidat konnte sich am Ende gegen die zersetzende AfD durchsetzen, weil sich viele Beteiligte aus der Zivilgesellschaft, Unternehmen und Kirchen hinter ihn gestellt haben und deutlich gemacht haben, worum es geht: Demokratie leben und verteidigen.
ZEIT ONLINE: In Ihrem Heimatland Thüringen hat aber die CDU gerade genau das Gegenteil getan und ein Gesetz mit den Stimmen der AfD verabschiedet.
Göring-Eckardt: Ich habe mit Mario Voigt darüber gesprochen und er hat versichert, dass er das nicht noch einmal machen will. Es wird sich zeigen. Die CDU in Thüringen ist kein monolithischer Block, es gibt leider auch diejenigen, die direkt mit der AfD zusammenarbeiten wollen. Deswegen darf niemand stillsitzen bleiben, sondern wir müssen die demokratische Mitte stärken. Gemeinsam. Nur so kann unser Land auch wirtschaftlich Erfolg haben.
ZEIT ONLINE: Wo landen die Grünen bei den Landtagswahlen?
Göring-Eckardt: Es wird für uns, zugegebenermaßen schwer, in allen drei Ländern wieder in den Landtag einzuziehen. Aber das müssen wir schaffen, damit eine Regierungsbildung ohne AfD-Beteiligung weiterhin möglich ist. Dafür braucht der Osten Bündnisgrüne.
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