Interview zur Atomkraft-Diskussion
Quelle: t-online.de, 29.07.22
t-online: Frau Göring-Eckardt, wie lange haben Sie heute geduscht?
Katrin Göring-Eckardt: Kürzer als früher. Ich habe das früher auch gern zur Entspannung genutzt, dabei schon mal über den Tag nachgedacht. Jetzt: kurz duschen, ausmachen, einseifen, abwaschen, fertig.
Sie befolgen also die Spartipps Ihres Parteifreundes Robert Habeck?
Ich habe das schon länger für mich so entschieden. Manchmal ist das Private eben doch politisch.
Was tun Sie sonst noch, um Energie zu sparen?
Wir haben jetzt eine Solaranlage auf dem Dach. Jeden Tag gucken wir nach: Wie viel speisen wir ein, wie viel verbrauchen wir? Man bekommt ein größeres Bewusstsein für den Verbrauch, wenn das so transparent ist.
Bringt es wirklich so viel, wenn Privathaushalte sparen? Oder ist das nicht ein bisschen Ablenkung davon, dass die eigentlichen Energiefresser die großen Unternehmen sind?
Selbstverständlich müssen auch Industrie und Verwaltungen sparen. Das ist klar. In der Summe sind auch Privathaushalte Energiefresser. Allein die bisherigen Appelle haben schon viel gebracht. Sparen von Energie hilft nicht nur der Umwelt und schadet Putin, auch dem eigenen Portemonnaie tut man etwas Gutes.
Diskutiert wird auch, ob als Mittel gegen die Energiekrise die drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke in Deutschland über das Jahresende hinaus laufen sollten. Wird das passieren?
Nein.
Kein Streckbetrieb?
Was verstehen Sie darunter?
Es ist ein anderes Wort für denselben Vorgang: Ein Meiler läuft länger als geplant.
Es bleibt beim Atomausstieg. Es werden keine neuen AKWs in Betrieb genommen und es werden mit Sicherheit nicht alle drei bisherigen länger laufen. Sie haben das AKW Isar 2 in Bayern im Blick. Das ist ein Söder-Problem. Die bayerische Politik hat dazu geführt, dass nicht genügend Windräder gebaut und Leitungen verlegt wurden. Das rächt sich jetzt. Statt einfach nach Atomkraft zu rufen, muss Markus Söder alles daran setzen, Energie einzusparen, um die Versorgung sicherzustellen. Was-wäre-wenn-Spekulationen sollen ihm doch nur aus der Patsche helfen und von den notwendigen Einsparungen ablenken. Statt einen Energie-Spargipfel einzuberufen, hofft Herr Söder, dass das jemand anderes für ihn erledigt. So läuft das aber nicht.
Warum lässt die Bundesregierung dann in einem zweiten Stresstest prüfen, ob man alle drei AKW länger laufen lassen kann?
Weil es darum geht, das Ganze ideologiefrei zu prüfen. Die entscheidende Frage: Was liefert Bayern an drastischen Einsparmaßnahmen? Der Stresstest wird jetzt abgewartet und dann zeigt sich, ob eine echte Notsituation entsteht. Wie man dann im Notfall helfen muss, sehen wir dann. Dabei wird mit Sicherheit aber gelten: keine Laufzeitverlängerung, keine neuen Brennstäbe.
Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) fordert, dass die Regierung jetzt neue Brennstäbe beschaffen und die AKW so lange laufen sollten, bis die Energiekrise überwunden ist.
Das ist ein starkes Stück. Wer hat denn in den vergangenen 16 Jahren regiert und uns durch die energiepolitischen Versäumnisse erst in die Abhängigkeit getrieben? Das muss auch ein CDU-Chef heute eingestehen. Friedrich Merz hat doch sonst auch kein Problem, die Politik von Angela Merkel zu kritisieren. Was die Atombefürworter übersehen: Auch bei Uran machten wir uns wieder abhängig, denn das haben wir nicht in Deutschland. Ich finde, Friedrich Merz sollte ein bisschen patriotischer denken und sich für 100 Prozent Versorgung durch erneuerbare Energien einsetzen.
Also schließen Sie aus, dass alle drei Meiler länger laufen oder sogar stillgelegte Meiler wieder in Betrieb genommen werden?
Das schließe ich vollkommen aus. Der Ausstieg aus der Atomkraft ist lange beschlossen, er ist richtig und er ist gesellschaftlicher Konsens.
Der gerade bröckelt.
Atomkraft ist nach wie vor sehr gefährlich. Ich habe in Tschernobyl selbst gesehen, was sie ausrichten kann, habe Kinder getroffen, die durch den Reaktorunfall geschädigt waren. Deshalb ist für mich klar: Es wird keine Laufzeitverlängerung für die AKWs geben.
Wie erklären Sie sich dann, dass die Atomkraft fast überall ein Comeback erlebt – in Japan, in den Niederlanden, in Frankreich?
Frankreich ist doch ein gutes Beispiel. Die Hälfte der AKW ist gerade stillgelegt, weil sie nicht gekühlt werden können.
Umfragen zeigen, dass die Franzosen trotzdem mit großer Mehrheit hinter der Atomenergie stehen. Einer der berühmtesten Klimaexperten des Landes, Jean-Marc Jancovici, kommt in seinem Buch „Welt ohne Ende“ zu dem Ergebnis: Atomkraft ist die umweltfreundlichste Energie. Er hält Unfälle wie in Fukushima in Frankreich für ausgeschlossen.
Sorry, aber so wie Sie es zitieren, ist das Quatsch. Es kann auch in Frankreich Erdbeben, Brände oder Terrorattacken aus der Luft gegen ein AKW geben. Und es stimmt auch nicht, dass diese so CO2-neutral wären. Für Kernkraft muss Uran abgebaut, angereichert und für sehr lange Zeit endgelagert werden. Das alles verbraucht viel CO2. Hinzu kommt: Je mehr Atomstrom produziert wird, umso weniger kommen die erneuerbaren Energien ins Netz. Weil der Atomstrom die Leitungen dann quasi verstopft. Kernkraft ist ein Rückschritt, kein Fortschritt. Vom Endlager-Problem ganz zu schweigen. Wer das nicht berücksichtigt, ist für mich kein guter Klimaexperte.
Wir halten fest. Sie sagen: Der Ausstieg vom Ausstieg aus der Atomenergie wird in Deutschland nicht kommen, Energiekrise hin oder her.
Richtig. So haben wir es in der Koalition vereinbart. Die Atomdebatte ist eine Scheindebatte, die davon ablenken soll, dass die alte Regierung, allen voran die Union, die aktuelle Energiekrise zu verantworten hat und wie wir dauerhaft aus ihr herausfinden. Zumal der Atomstrom auch gar nicht so viel bringt. Es geht um ein Prozent Gas und sechs Prozent Strom. Das kriegt unser starkes Land mit Einsparungen rein. Wer jetzt über Atomkraft diskutieren will, ist nicht an der Frage interessiert, wie wir unabhängig bei der Energie werden. Sondern nur daran, den Grünen eins reinzuwürgen.
Bei der Begriffswahl scheint sich Göring-Eckardt an eine interne Absprache zu halten. Die „Welt“ hatte am Dienstag aus einer Mail der Grünen-Geschäftsführung zitiert, die eine Sprachregelung für die Atomdiskussionvorschlägt. Darin heißt es unter anderem: „Grundsätzlich wichtig: Wir lassen uns hier nicht von Scheindebatten treiben.“
Das kann ja nicht passieren, wenn Sie sich so sicher sind, dass es dazu nicht kommt. Sie schreiben auf Twitter auch „Wir werden ohne Putins Gas auskommen“. Wie das denn?
Das Wichtigste akut: einsparen, einsparen, einsparen. Und dann: Turbo bei den Erneuerbaren. Das ist ein gemeinsamer Kraftakt, den wir gemeinsam schaffen: Regierung, Wirtschaft, Gesellschaft.
Gerade der Bundestag geht da nicht mit bestem Beispiel voran. Dort läuft trotz Sommerpause die Klimaanlage.
Auch der Bundestag muss definitiv einsparen und darf nicht Räume kühlen, die nicht genutzt werden. Außerdem finde ich: Auch wenn wir über CO2 reden, hat der Bundestag eine Vorbildfunktion. Beim Catering im Bundestag müssen vegetarische und vegane Angebote der neue Standard werden und wenn überhaupt Fleisch, dann muss die Auswahl an Fleischgerichten deutlich reduziert werden.
Mit Veggiedays allein werden wir noch nicht unabhängig von russischem Gas.
Wir müssen überall sparen. Unternehmen müssen prüfen, ob sie die Heizungen und Klimaanlagen in den Büros und Werkhallen drosseln können. Gleiches gilt für öffentliche Gebäude, Golfclubs oder auch Spaßbäder. Wir sollten uns bewusst machen: Die notwendigen Einschränkungen wegen des Krieges sind nur der Anfang. Die Klimakrise wird uns noch viel mehr Einschränkungen abverlangen.
Was meinen Sie damit?
Unser Leben wird sich verändern, ob wir wollen oder nicht. Die Ressourcen des Planeten sind endlich. Endloses Wachstum kann es folglich nicht geben. Bislang ging es bei der Definition um Wohlstand nur um das Bruttoninlandsprodukt und Wachstum. Künftig wird für Wohlstand auch entscheidend sein, ob ein Land eine gute Klimabilanz und ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem hat. Wirtschaftswachstum ist wenig wert, wenn wir ein Klima haben, das menschliches Leben auf der Erde unmöglich macht.
Glauben Sie, dass die Menschen bereit sind, auf klassischen Wohlstand zu verzichten?
Wir werden lernen müssen, Einschränkungen hinzunehmen. Wir leben in einer Gesellschaft des Überflusses. Es gibt alles überall zu jeder Zeit. Muss das Brotregal im Supermarkt auch kurz vor Ladenschluss noch die volle Auswahl bieten, muss man jeden Tag Fleisch essen und die riesige Auswahl im Restaurant haben? Ist das Wohlstand? Wir brauchen eine realistischere Definition.
Was ist mit denen, die schon jetzt kaum über die Runden kommen?
Wohlstand ist schon jetzt sehr ungerecht verteilt. Wer arm ist, darf nicht weiter belastet werden. Deshalb muss gelten: Das was uns bleibt, werden wir gerechter verteilen müssen. Ärmere sind übrigens meist die, die einen sehr kleinen CO2-Abdruck haben, und zugleich am stärksten unter schlechten Umweltbedingungen leiden, weil sie sich eben keine großen, schicken, ruhigen Wohnungen leisten können. In unserem Land leben daneben viele sehr Reiche, denen auch höhere Gasrechnungen nichts ausmachen. Wir werden die Ressourcen neu verteilen müssen.
Was heißt das konkret? Eine Reichensteuer?
Wir haben eine Notsituation, nicht wegen einer, sondern gleich mehrerer Krisen. Die werden so schnell nicht weichen. Deshalb müssen wir auch über die Schuldenbremse reden. Sie ist angesichts der Lage nicht haltbar. Gleichzeitig kann es nicht sein, dass der Staat, also das Gemeinwesen, Schulden anhäuft, während einige, die besonders viel haben, sich einen schlanken Fuß machen. Ich kann mir vorstellen, dass man den CO2-Verbrauch stärker besteuert. Wer eine besonders hohe CO2-Bilanz hat, zum Beispiel mit einer großen Wohnung, zwei Autos und permanenten Flugreisen, der muss mehr zahlen. Denkbar wäre auch eine temporäre Vermögensabgabe. Wir brauchen einen neuen Gerechtigkeitsvertrag. Wir werden künftig soziale Gerechtigkeit nicht mehr von Klimagerechtigkeit trennen können.