1. Juli 2022

„Nichts zu tun, ist nicht verantwortlich“

Quelle: FAZ.NET vom 30.06.2022 von Helene Bubrowski

 

Die Grünen-Politikerin Göring-Eckardt würde gern über ein neues Infektionsschutzgesetz diskutieren. Dem Koalitionspartner FDP wirft sie eine zu zögerliche Pandemie-Politik vor.

Von Helene Bubrowski, Berlin

 

Frau Vizepräsidentin, die aktuellen Schutzmaßnahmen laufen am 23. September aus. Vor der parlamentarischen Sommerpause wird die Regierung aber keinen neuen Gesetzentwurf vorlegen. Ist das ein Fehler?

Ja. Ich finde, wir hätten gut daran getan, jetzt einen Gesetzentwurf einzubringen oder zumindest Eckpunkte vorzulegen und die über den Sommer mit allen Beteiligten zu diskutieren. Meine größte Sorge ist, dass wir wieder in eine Situation geraten, in der hektisch was auf den Tisch gelegt wird, in größter Eile die Anhörungen stattfinden, am Freitag der Bundesrat zustimmt. Und am Montag müssen die Regelungen schon in den Schulen, in den Betrieben und überall umgesetzt werden. Das setzt unnötigerweise Menschen unter Druck. Und es verunsichert viele.

 

Die FDP hat darauf bestanden, das Gutachten abzuwarten, das der Sachverständigenrat an diesem Freitag vorlegt. Ist das sinnvoll?

Evaluation ist wichtig. Aber: Wir wissen, welche Maßnahmen konkret hilfreich sind. Es gibt genügend Studien dazu. Auf ein Gutachten zu warten, damit man erstmal nichts tun muss, halte ich in der Bekämpfung einer Pandemie nicht für besonders verantwortlich.

 

Bundesjustizminister Buschmann (FDP) hat gesagt, dass der Staat Masken nur vorschreiben kann, wenn das „evidenzbasiert“ sei. Untergräbt er das Vertrauen in die Wissenschaft?

Es gibt so viele Untersuchungen, die zeigen, dass Maskentragen hilft, dass es eine sehr einfache und sehr sinnvolle Maßnahme ist. Das weiß auch Marco Buschmann. Vom Justizminister erwarte ich vorausschauendes, verantwortungsvolles Handeln.

 

Welche Schutzmaßnahmen müssen in dem neuen Gesetz drinstehen?

Für den Fall, dass eine neue Virusvariante auftaucht oder das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt, müssen wir vorbereitet bleiben. Es geht nicht um neue Maßnahmen, Bewährtes muss dann wieder möglich sein: die Maskenpflicht in Innenräumen, Kontaktbeschränkungen für bestimmte Bereiche, besonderer Schutz für empfindliche Gruppen, um gerade auch Kindern den Schulbesuch zu sichern. Und: Wir sollten auch wieder viel mehr Homeoffice ermöglichen können, als das jetzt der Fall ist.

 

Was ist das Ziel?

Coronaschutz ist auch Wirtschaftsschutz. Es wundert mich, dass gerade die FDP das nicht sieht. Im vergangenen Herbst und Winter hatten wir Kontaktbeschränkungen und Regelungen zum Homeoffice, trotzdem gab es 63 Millionen Tage Arbeitsausfall, wie das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung geschätzt hat. Das heißt umgerechnet, dass es in der Zeit zu Produktionsausfällen von mehr als sieben Milliarden Euro kam, weil Menschen krank waren. Da ist noch nicht mal eingerechnet, was das für das Wachstum bedeutet. Wenn es in diesem Herbst weniger Schutzmaßnahmen gibt, wird der Schaden noch höher ausfallen. Und das in einer Zeit, in der wir sowieso schon hohe Energiekosten und Lieferengpässe haben. Ich kenne Unternehmen, die jetzt schon von sich aus Schutzvorkehrungen treffen, weil sie nicht auf die Politik warten wollen.

 

Was wäre das schlimmste Szenario, auf das wir uns einstellen müssen?

Dass nicht genügend Leute da sind, die unsere Infrastruktur aufrechterhalten: Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Schulen, aber auch Mobilität oder die Energie- und Wasserversorgung.

 

Mit einer besonders tödlichen Variante rechnen Sie nicht?

Auch dafür muss man Vorsorge treffen. Wir sollten auch nicht vergessen, dass auch heute jeden Tag Menschen an Corona sterben. Wenn bei uns jeden Monat ein Flugzeug verunglückte, in dem ein paar hundert Leute sitzen, würden wir hochalarmiert sein und ständig darüber sprechen, wie wir das stoppen. Bei der Pandemie reden wir darüber nicht mehr.

 

Wie sehr belastet das Corona-Thema die Koalition?

Wir haben eine Reihe von Diskussionspunkten in der Koalition. Das war auch erwartbar, es sind ja Parteien, die in verschiedenen Fragen programmatisch nicht nah beieinander sind. Da geht es um den Verbrenner und genauso um das Virus. Vor dem Herbst müssen wir beim Infektionsschutzgesetz zu einem Ergebnis kommen. Deswegen ist mir so wichtig, klar zu machen: Es geht einerseits um den Schutz von vulnerablen Menschen. Es geht aber andererseits auch darum, wie wir unsere Wirtschaft in so extremen Krisenzeiten sichern. Da sollten wir nicht selbst zusätzliche Gefahren produzieren. Und ja, ich hoffe, dass sich da auch die FDP bewegt. Ich bin froh, dass die Bildungsministerin jetzt eine Digitalstrategie für die Schulen angekündigt hat. Wir müssen da besser werden. Wir müssen allerdings auch darüber reden, dass die individuelle Freiheit nicht über allem steht. Wie ich mich gerade selbst fühle, mit oder ohne Maske, das ist in Krisenzeiten doch nicht das Thema, sondern wie wir als Gesellschaft diese schwierige Zeit gemeinsam überstehen.

 

Wollen Sie das Thema Impfpflicht noch mal anfassen?

Ich würde gerne eine Impfpflicht haben, aber ich glaube, dafür gibt es im Moment einfach keine Mehrheit. Deswegen ist eine neue Impfkampagne so wichtig. Die Infrastruktur muss so sein, dass man sich überall schnell impfen lassen kann, und zwar Kinder und Erwachsene. Die Impfung schützt vor einem schweren Verlauf, sie ist unser stärkstes Mittel gegen das Virus.

 

Der Bürgertest kostet nun drei Euro. Ist das sinnvoll?

Richtig ist, dass nicht alle Testzentren seriös gearbeitet haben. Deshalb bin ich einverstanden, an der Vergütung für die Zentren etwas zu ändern. Aber es ist problematisch, wenn sich Leute nicht mehr testen lassen, nur weil sie es sich nicht leisten können. Das sollten wir uns für den Herbst noch mal sehr genau anschauen.

 

Viele Menschen wollen sich den Sommer nicht durch Gedanken an die nächste Welle vermiesen lassen. Wie gehen Sie damit um?

Ich habe großes Verständnis dafür, dass Leute sagen: Ich will jetzt einmal durchatmen, ich will jetzt endlich auf dieses Festival gehen, auf die große Familienfeier und jetzt mal nicht an Corona, Klima oder Krieg denken müssen. Umso mehr haben wir als Politikerinnen und Politiker die Aufgabe, vorzusorgen. Wir müssen nicht alle Leute ständig damit konfrontieren, woran wir im Detail gerade im Kampf gegen die Krisen arbeiten. Es muss aber klar sein: Wir sorgen vor, wir packen die nötigen Instrumente ein, damit wir sie haben, wenn wir sie brauchen. Dann wissen die Leute: Die Regierenden sind verantwortungsbewusst, sie kümmern sich, die streiten sich vielleicht auch, aber am Schluss können wir sicher sein, dass wir in ruhigeres Fahrwasser kommen – jedenfalls soweit es irgendwie geht in extremen Krisen, in die wir unweigerlich weiter hinein laufen.

 

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