Streitgespräch mit Sarah Wagenknecht
Erstveröffentlichung in der Ausgabe 27/2024 von „der Freitag“ und online unter freitag.de am 03.07.2024.
Die eine wirbt für Waffenlieferungen an die Ukraine, die andere für Friedensverhandlungen mit Russland: Katrin Göring-Eckardt und Sahra Wagenknecht, zwei ostdeutsche Politikerinnen, bilden die Pole der deutschen Debatte über den Krieg. Beide wuchsen in Thüringen auf, mussten sich als Küchenhilfe bzw. Russischlehrerin einst allein durchschlagen und stehen sich jetzt mit Bündnis 90/Die Grünen und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in drei ostdeutschen Landtagswahlkämpfen gegenüber – würden sie in Thüringen oder Sachsen koalieren, um die AfD zu verhindern?
der Freitag: Frau Göring-Eckardt, mit 16 nahmen Sie eine Kassette für einen Rezitationswettbewerb auf. Sie fanden Ihren Thüringer Dialekt „schrecklich“, ein halbes Jahr später sprachen Sie Hochdeutsch. Das war vor der Wende.
Katrin Göring-Eckardt: Ja, das war 1982. Ich wollte an diesem Wettbewerb teilnehmen, und der war DDR-weit. Ich dachte, wenn ich jetzt mit diesem breiten Thüringisch komme, ist das keine gute Idee, und habe mir das abtrainiert. Aber ich kann es wieder: Wo ich geboren bin, haben wir quasi nur einen Vokal, dieses „oe“. Da, wö ösch gebören bin …
der Freitag: War es nach der Wende ein Vorteil, dass der Dialekt weg war?
Göring-Eckardt: Ich habe darüber das erste Mal vor 20 Jahren nachgedacht. Mir hatte ein Dialektforscher, der das Thüringische auf zehn Kilometer identifizieren kann, gesagt: „Du kommst ja wohl nirgendwoher!“ Da hab ich angefangen, mir das wieder anzugewöhnen, so heimatlos wollte ich nicht sein. Anfang der 2000er wurde ich sogar mal für eine Westdeutsche gehalten …
der Freitag: Als Jugendliche hielt ich Sie auch für westdeutsch.
Göring-Eckardt: Echt?
der Freitag: Frau Wagenknecht, in Videos von Ihnen aus den 1990ern ist ebenfalls mehr Dialekt zu hören.
Sahra Wagenknecht: Tatsächlich? Ich habe mir den eigentlich früh abgewöhnt und war gerade beeindruckt, dass Frau Göring-Eckardt das noch so beherrscht – ich glaube, ich kann das gar nicht mehr. Ich bin bei meinen Großeltern in Jena aufgewachsen und habe Jenaer Dialekt gesprochen. Als ich mit sieben Jahren in Berlin eingeschult wurde, fanden es die anderen Kinder ziemlich doof, wie ich geredet habe. Ich höre Thüringisch immer noch gern, habe mir selbst das damals aber rabiat abgewöhnt – und Hochdeutsch gesprochen.
Göring-Eckardt: Aber bei Ihrem „nadürlich“ hört man es noch! Wir Thüringer machen das „t“ ja gern zum „d“.
der Freitag: 1989 sind Sie sehr unterschiedliche Wege gegangen. Frau Göring-Eckardt, konnten Sie es nachvollziehen, dass Frau Wagenknecht damals in die SED eintrat, um sich für eine andere DDR einzusetzen?
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass die SED ihre Geschichte aufarbeiten will.“
Göring-Eckardt: Nein, ich hatte nicht den Eindruck, dass die SED ihre Geschichte aufarbeiten will. Wir beiden waren damals aber – darf ich das sagen? – relativ jung und hatten wohl viel Enthusiasmus und Hoffnung. Ich habe das in der Bürgerrechtsbewegung gefunden. Die wollte die DDR demokratisch erneuern, wir waren nicht dafür, dass wir ganz schnell ein einiges Deutschland werden und uns nur an Westdeutschland anschließen. Aber zu der Zeit wollte die Mehrheit der Leute das so.
Wagenknecht: Ich hatte wirklich gehofft, dass man die DDR reformieren kann, hin zu einem attraktiven System ohne Repression, in dem es nicht nur darum geht, aus Geld mehr Geld zu machen. Ich wollte ein neues Modell, in dem man Dinge ausprobieren kann, die anders sind als im Westen. Ich habe das damals Sozialismus genannt, aber es war eben nicht das Modell der DDR, sondern …
Göring-Eckardt: Bei mir hieß es Dritter Weg. Aber demokratisch.
der Freitag: Wie haben Sie damals die Gründung von Bündnis 90 gesehen, Frau Wagenknecht?
Wagenknecht: Mich hätte damals eher die SPD interessiert, tatsächlich auch deshalb, weil ihr damaliger Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine nicht die sofortige Wiedervereinigung wollte.
der Freitag: Spielte das Ost/West-Thema in den Wahlkämpfen zuletzt eine große Rolle?
„Wir haben extrem unterschiedliche Verhältnisse, was Einkommen, Vermögen und Erbschaften angeht. Da sieht man immer noch die ehemalige Grenze.“
Göring-Eckardt: Ja, leider immer als etwas Vergleichendes: Die Ostdeutschen arbeiten länger für weniger Geld. In Westdeutschland arbeiten Frauen weniger als in Ostdeutschland, wo es eine relativ zuverlässige Ganztags-Kinderbetreuung gibt. Wir haben extrem unterschiedliche Verhältnisse, was Einkommen, Vermögen und Erbschaften angeht. Da sieht man immer noch die ehemalige Grenze.
der Freitag: Immer noch, bald nicht mehr?
Göring-Eckardt: Wir müssen die Unterschiede wahrnehmen und sozialen Ausgleich schaffen, so wie das unsere Verfassung vorsieht. Aber wir sollten nicht so tun, als müssten sich Mentalitäten angleichen, die Ostdeutschen wie die Westdeutschen werden oder andersrum. Ein bisschen mehr gegenseitiges Interesse wäre ganz gut und schlau. Aber schon an uns beiden sieht man ja: Der Osten ist nicht der Osten. Ich weiß gar nicht, ob Sie sagen würden, dass Sie ostdeutsch sind, Frau Wagenknecht?
Wagenknecht: Ja, sicher. Ins Saarland bin ich 2011 gezogen, aber gerade die Kindheit ist ja prägend. Bis ich 20 war, war ich ein Kind der DDR, auch wenn ich da vieles kritisiert habe. Aber das Interessante ist, dass es immer noch Mentalitätsunterschiede gibt, auch im Wahlverhalten – das betrifft jetzt Generationen, die ihr gesamtes bewusstes Leben im wiedervereinigten Deutschland verbracht haben. Da sieht man, wie stark Dinge über Familien weitergegeben werden. Was den Osten auszeichnet, ist dieses kritische Hinterfragen von allem, was „von oben“ kommt. Als Kind kannte ich niemanden, der die Aktuelle Kamera ernst genommen hat …
Göring-Eckardt: Ich wollte sie immer schauen.
Wagenknecht: Die Aktuelle Kamera?
Göring-Eckardt: Ja, ich durfte zu Hause nur Westfernsehen gucken. (Alle lachen.)
Wagenknecht: Die ich kannte, haben gewusst: Was da erzählt wird, stimmt nicht, das ist eine Scheinwelt. Diese Haltung, wir glauben nicht alles, was uns die Medien erzählen, und allergisch zu reagieren, wenn man das Gefühl hat, hier kommen Politiker, die wollen uns erziehen – da ist der Ossi schon renitenter.
„Die Letzten, die versucht haben, mich zu erziehen, waren Erich Honecker und mein Vater, der Hitlers Mein Kampf auf dem Schrank liegen hatte. Hat beides nicht geklappt.“
Göring-Eckardt: Die Letzten, die versucht haben, mich zu erziehen, waren Erich Honecker und mein Vater, der Hitlers Mein Kampf auf dem Schrank liegen hatte. Hat beides nicht geklappt. Ich bin nicht ganz sicher, ob die Ostdeutschen so stark an allem gezweifelt haben, aber sie haben jedenfalls gelernt, aufzupassen, was sie wem sagen: Zu Hause sagt man das, draußen etwas anderes. Um der Stasi keinen Vorwand zu geben, um nicht in den Knast zu kommen oder kein Abi machen zu dürfen, so wie es meiner Mutter erging. Diese Belastung war unheimlich schwer. Zugleich gibt es im Osten diesen Witz: Westdeutsche brauchen 13 Schuljahre, weil sie noch ein Jahr „Performance“ lernen müssen. Wie zentral offene Diskussionen sind, habe ich aber mehr von westdeutschen Freunden gelernt als durch dieses zweischneidige Denken und Reden in der DDR.
Das Heizungsgesetz oder: Wie moralisch ist heizen und essen?
der Freitag: Das Hinterfragen bleibt im Osten nicht mehr zu Hause, es wird laut auf die Straße getragen. Sie und Ihre Partei bekommen das stark ab, Frau Göring-Eckardt, bis hin zu körperlichen Angriffen. Wie fühlen Sie sich damit?
Göring-Eckardt: Kritik ist legitim, persönliche Angriffe, Bedrohungen oder Beleidigungen nicht. Ich werde als Person attackiert, als Grüne, als Politikerin, als Frau. Das hat zugenommen. Ich werde auch als „Küchenhilfe“ beschimpft, da ist mir mal der Kragen geplatzt: „Hört auf, Küchenhilfen zu beleidigen, das ist verdammt daneben!“
der Freitag: Sie haben nach dem Abbruch Ihres Studiums 1988 einige Zeit als Küchenhilfe gearbeitet.
Göring-Eckardt: Ja. Das ist ein harter Job. Ich finde es nicht okay, dass über meine Person alle beleidigt werden, die in der Küche schuften.
der Freitag: Die Grünen hatten 2019 gute zweistellige Ergebnisse im Osten. Warum haben Sie bei den Europa- und Kommunalwahlen derart verloren?
Göring-Eckardt: Es gab zwei, drei herausragende Wahlen – als die Bündnisgrünen der „heiße Scheiß der Republik“ waren. Damals waren die Fridays for Future auf den Straßen, und es wurde an fast jedem Abendbrottisch über den Ausweg aus der Klimakrise geredet. Gleichzeitig haben wir in Ostdeutschland beim Umweltthema das Gefühl, es ist eigentlich alles besser geworden: Seit der friedlichen Revolution sind die Flüsse sauberer geworden, ich kann jetzt darin baden, es stinkt nicht mehr nach Braunkohle.
der Freitag: Das Gefühl, es ist nicht mehr so dringend.
Göring-Eckardt: Ja. Dazu kommt im Osten eine große Enttäuschung darüber, dass durch die Solarproduktion im Erfurter Dreieck oder in der Region Magdeburg zunächst viele Jobs entstanden, die dann aber wieder zerstört worden sind. Gern werden die Grünen dafür verantwortlich gemacht. Als Protestantin nehme ich immer gern Schuld auf mich. Aber in dem Fall waren wirklich die Bundesregierungen nach Rot-Grün schuld. Und weil Frau Wagenknecht ja schon von den angeblichen grünen Vorschriften angefangen hat …
der Freitag: Frau Wagenknecht sagte, im Osten reagieren Menschen allergisch, wenn sie das Gefühl haben, Politiker wollen sie erziehen
„Ich habe nie vorgehabt, jemanden zu erziehen, ich habe mich auch in der eigenen Partei – zweimal als Spitzenkandidatin – immer massiv dagegen gewehrt.“
Göring-Eckardt: Ich habe nie vorgehabt, jemanden zu erziehen, ich habe mich auch in der eigenen Partei – zweimal als Spitzenkandidatin – immer massiv dagegen gewehrt. Aber dieser Frame funktioniert gut, weil er immer wieder wiederholt wird: von Frau Wagenknecht, von Konservativen, von ganz rechts außen…
Wagenknecht: Es ist nicht nur ein Frame, es kommt so bei den Menschen an. Habeck hat gesagt, dass er mit dem Heizungsgesetz …
Göring-Eckardt: … Fehler gemacht hat.
Wagenknecht: Er hat gesagt, er wollte mit dem Heizungsgesetz mal testen, wie weit man die Bürger treiben …
Robert Habeck hat wörtlich gesagt: „Die Debatte um das Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft, war ja auch ehrlicherweise ein Test, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen.“
Wagenknecht: Für mich ist das ein fragwürdiges Demokratieverständnis. Politiker werden ja nicht gewählt, um mal zu testen, wie weit sie gehen können. Man will den Leuten etwas diktieren, und wenn man merkt, das läuft nicht so, geht man wieder ein Stück zurück? Das ist schon ein Erziehungsanspruch. Die meisten Menschen wollen, dass wir unsere Umwelt nicht zerstören, dass wir den Klimawandel bremsen. Wer will seinen Kindern einen unbewohnbaren Planeten hinterlassen? Aber die Bundesregierung macht viele Dinge, die diesem Ziel nicht dienen. Beim Heizungsgesetz liegt es auf der Hand: Wenn nicht klar ist, wo der Strom herkommt, ist es relativ unsinnig, Gasheizungen durch Wärmepumpen zu ersetzen, die im Winter vielleicht mit Kohlestrom betrieben werden müssen. Außerdem ist es extrem teuer. Das hat wirklich Menschen zur Verzweiflung gebracht. Ich hatte Leute vor mir mit Tränen in den Augen, weil sie Angst hatten, sie verlieren ihr Einfamilienhaus. Dann hören sie, dass der Minister sagt: Na ja, war mal ein Test. Das kann man nicht machen. Es gibt auch Debatten über Ernährung, in denen den Leuten ein schlechtes Gewissen eingeredet wird, wenn sie ihr Schnitzel bei Aldi kaufen.
Göring-Eckardt: Von wem?
Wagenknecht: Wenn Cem Özdemir eine Fleischsteuer fordert, macht das alles teurer. Discounterfleischkäufer werden verächtlich gemacht und gelten als große Sünder. Auch, wer Verbrenner fährt. Wer edel ist, fährt Elektroauto – aber auch das können sich viele Leute gar nicht leisten.
Göring-Eckardt: Wenn Cem Özdemir dafür sorgen will, dass die Tiere nicht gequält werden …
Wagenknecht: Das ist aber etwas anderes.
„Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu verändern, sodass alle bei der Wende zur ökologisch nachhaltigen Wirtschaft mitmachen können. Dazu braucht es natürlich den sozialen Ausgleich!“
Göring-Eckardt: Nein, genau darum geht es. Dass die Bäuerinnen und Bauern mehr Geld haben, um Tierschutz umsetzen zu können. Nicht darum, jemanden zu diffamieren, der Schnitzel kauft. Tierschutz ist keine Moral, auch nicht die Frage, wer fossile Verbrenner fährt. Am nachhaltigsten ist es übrigens, Autos zu Ende zu fahren. Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu verändern, sodass alle bei der Wende zur ökologisch nachhaltigen Wirtschaft mitmachen können. Dazu braucht es natürlich den sozialen Ausgleich!
Wagenknecht: Aber dabei werden die Dinge verteuert! Der CO₂-Preis soll Autofahren teurer machen. Gleichzeitig gibt es keine Alternative zum Auto: Die Leute können nicht auf den Zug umsteigen, wenn er nicht fährt. Sie nehmen also das Auto, das teurer wird für sie, und können sich andere Dinge nicht mehr leisten. Der Diskurs, dass man kein Fleisch mehr essen soll, ist auch Marketing. „Vegan“ ist doch auch deswegen so hip, weil die Lebensmittelindustrie mit diesen Produkten die höchsten Gewinnspannen erzielt. Wir sollten damit aufhören, solche Fragen moralisch aufzuladen.
der Freitag: Gerade in Ostdeutschland haben viele Hausbesitzer wenig Geld. Solche sozialen Schieflagen kannte man schon von den Gelbwesten in Frankreich. Wie konnten die Grünen dennoch so unsensibel an das Heizungsgesetz herangehen?
Göring-Eckardt: Moment, wir dürfen nicht vergessen, dass es natürlich auch Interessen gab, die notwendige Transformation zu sabotieren. Denken wir nur an die Durchstechereien des halbfertigen Gesetzesentwurfs. Und mit diesen Unwahrheiten oder Halbfakten wird bis heute, auch von Frau Wagenknecht, argumentiert. Aber: Ja, es wurden Fehler gemacht.
der Freitag: Wieso war kaum von den sozialen Folgen und einem angedachten Sozialpaket die Rede?
„Fossile Energien werden teurer, egal, ob ein Grüner irgendwo in der Welt etwas zu sagen hat.“
Göring-Eckardt: Robert Habeck hat klargemacht, dass niemand beim Austausch seiner Heizung überfordert werden soll. Ich sah in dem Entwurf aber andere entscheidende Probleme: Es gab keine Lösungen für die unterschiedlichen Lagen in Ost und West und in Stadt und Land. Es hieß: Die neue Heizung bewirke ja eine Wertsteigerung für das Haus! Aber ein Nachbar von mir, der braucht keine Wertsteigerung für sein Haus. Der verdient 1.000 Euro, möchte nichts aufstocken und kein Wohngeld, er möchte einfach in dem Haus leben, das er von den Eltern geerbt hat. Ich hätte es sehr viel klüger gefunden, von Anfang an zu sagen: So, wir machen das jetzt, damit ihr alle in fünf, zehn Jahren noch eine bezahlbare, warme Bude habt. Denn darum geht es doch. Fossile Energien werden teurer, egal, ob ein Grüner irgendwo in der Welt etwas zu sagen hat. Und Menschen wie dem Nachbarn hätte man die klimaneutrale Heizung auch komplett erstatten können, das wäre das Schlaueste gewesen.
Braucht Deutschland russisches Gas von Wladimir Putin?
der Freitag: Frau Wagenknecht, Sie halten es für das Schlaueste, wieder russisches Gas zu kaufen.
Wagenknecht: Wir brauchen auf absehbare Zeit eine Option jenseits der erneuerbaren Energien. Nur mit Sonne und Wind können wir unsere Volkswirtschaft mit den heutigen Technologien nicht am Laufen halten. Also brauchen wir die sogenannte Grundlast, und die sollte bezahlbar sein. Da gibt es nicht so viele Alternativen zu Gas. Kohle ist nicht umweltverträglich und inzwischen auch ziemlich teuer. Die drei Atommeiler hätte ich aufgrund der kritischen Situation zwar zunächst weiterlaufen lassen, aber ich bin auch nicht dafür, dass man jetzt neue Atomkraftwerke baut. Sie sind zu teuer, außerdem kommt ein sehr großer Teil des dafür nötigen Urans ebenfalls aus Russland. Das wird zwar immer beschwiegen, aber Russland hat bei Uran eine noch stärkere Stellung als bei Gas. Gas ist die sinnvollste Option, es ist zudem relativ einfach herunterzufahren, deswegen war die Idee immer: Wir ergänzen die erneuerbaren Energien durch Gaskraftwerke. Würde Norwegen plötzlich riesige Gasfelder erschließen und wir könnten unsere Gasversorgung aus Norwegen sichern: wunderbar! Es ist aber nicht so. Darum hat Robert Habeck in Katar tiefe Bücklinge gemacht. Warum das das moralisch saubere Gas sein soll, weiß ich nicht. Oder Gas aus Aserbaidschan, das Zehntausende aus Bergkarabach vertrieben hat – ist das edler?
Göring-Eckardt: Absurde Unterstellung, dass das jemand behauptet hätte.
Wagenknecht: Wir müssen schauen, was unsere Interessen sind. Objektiv schaden wir Russland nicht dadurch, dass wir sein Gas nicht mehr kaufen, es verkauft das Gas woanders. Wir schaden uns vor allem selbst. Bisher wurden die Verträge von den Russen weitgehend eingehalten, die beliefern immer noch die Pipeline, die durch die Ukraine geht. Warum sollen wir uns von einer Quelle abklemmen, die wir wirtschaftlich brauchen und die dazu beitragen könnte, dass wir billigeren Strom haben?
der Freitag: Frau Göring-Eckardt, können Sie sich eine Welt vorstellen, in der Deutschland mit Russland wieder normale Handelsbeziehungen unterhält?
„Die Ukrainerinnen und Ukrainer wünschen sich nichts mehr als Frieden.“
Göring-Eckardt: Vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer wünschen sich nichts mehr als Frieden. Ich hoffe, dass es Handelsbeziehungen mit einem sich hoffentlich demokratisierenden Russland geben wird – aber es sollte nicht um Handel mit fossilem Gas gehen. Wir können mit anderen Mitteln dafür sorgen, dass wir genug Strom und Wärme haben.
Wagenknecht: Mit welchen?
Göring-Eckardt: Sonne, Wind an Land und auf dem Wasser, Geothermie, Bioenergie. Wir sind auf einem guten Weg, auch beim Netzausbau, um auf 100 Prozent Erneuerbare zu kommen. Was wir an russischem Gas bekommen haben, ist wahnsinnig teuer, weil Putin es in der Hand hat. Es hat niemand gesagt, dass Gas aus Katar moralisch besser wäre.
Wagenknecht: Aber Sie haben doch versucht, das russische Gas dadurch zu ersetzen.
Göring-Eckardt: Ja, weil doch klar war, wir können diese Abhängigkeit von Putin nicht fortsetzen. Ich habe schon 2014 gesagt, auf gar keinen Fall sollten wir Nord Stream 2 bauen.
der Freitag: Sie haben 2014 auch in der „Zeit“ geschrieben: „Die Wirtschaftssanktionen sind kein Schritt in Richtung militärischer Eskalation, sie sind vielmehr ein Mittel der Diplomatie.“
„2014 hatten viele gehofft, die Minsker Abkommen plus Sanktionen würden die Situation befrieden. Aber Putin hat nichts davon eingehalten, der Krieg ging weiter.“
Göring-Eckardt: Und ich habe dort auch geschrieben: „Der Schlüssel, einer weiteren Verhärtung entgegenzuwirken, liegt nicht in Verhandlungen mit Putin über Rechte und Werte, die nicht verhandelbar sind.“ 2014 hatten viele gehofft, die Minsker Abkommen plus Sanktionen würden die Situation befrieden. Aber Putin hat nichts davon eingehalten, der Krieg ging weiter, auf der Krim sind Leute gefoltert und in Straflager gebracht worden, insbesondere die Minderheit der Krimtataren. Im Donbass sind Frauen vergewaltigt worden, Ukrainer wurden weiter getötet. Ich frage mich auch selbst nach den eigenen Fehlern. Ich war in der Ukraine, habe mich mit der Demokratisierung und der Korruptionsbekämpfung beschäftigt – und nicht ausreichend hingeguckt, was im Donbass passiert.
Die Idee: Ein Referendum im Donbass
der Freitag: Frau Wagenknecht, für den Donbass haben Sie ein international überwachtes Referendum im Rahmen eines Friedensprozesses vorgeschlagen …
Wagenknecht: Das ist ja sogar im Saarland möglich gewesen, nach einem furchtbaren Weltkrieg. Bei der Krim ist relativ offensichtlich, dass sich die Menschen mehrheitlich zu Russland gehörig fühlen. Im Donbass halte ich es für offen. Aber es ist nicht unsere Entscheidung, man sollte die Menschen vor Ort fragen. Die Lage ist doch die: Wir liefern seit zwei Jahren immer mehr Waffen, trotzdem kommt die Ukraine in eine Defensive. Die Russen aus dem gesamten Donbass und gar noch von der Krim zu vertreiben, ist ein unrealistisches Ziel. Wollen wir, dass dieser Krieg ewig weitergeht? Wolodymyr Selenskyj hat im Bundestag gesagt: Die Zeit der Kompromisse ist vorbei. Das bedeutet, entweder es gibt Frieden nach seinen Vorstellungen oder es gibt keinen Frieden. Ich finde, das kann man so nicht machen. Es muss doch einen Weg zum Frieden geben. Ein Weg wäre erst mal, die Front einzufrieren, wo sie jetzt ist. Das würde immerhin bedeuten, dass die Russen nicht weiter vorrücken. Referenden kann man erst abhalten, wenn Frieden eingekehrt ist, das geht nicht im Krieg.
der Freitag: Hat Putin 2014 aber gemacht.
Göring-Eckardt: Mit vorgehaltenen Waffen.
Wagenknecht: Ich sage auch nicht, dass wir das Referendum von 2014 im Donbass anerkennen sollen, sondern ich sage: Ein neues Referendum könnte ein Verhandlungsziel sein. Dass UN-Beobachter in die Gebiete gehen, die Waffen schweigen, die geflohenen Menschen in ihre Häuser zurückkönnen – und dass es dann ein Referendum gibt, um zu entscheiden, zu welchem Land sie gehören wollen. Beide Seiten müssten sich verpflichten, die Ergebnisse anzuerkennen. Das ist der einzige realistische Weg, diesen schrecklichen Krieg zu beenden und zu verhindern, dass er sich ausweitet.
der Freitag: Sie werben für Dialog und Diplomatie. Warum verlassen Sie dann zu einer Rede Selenskyjs das Plenum des Bundestags?
Wagenknecht: Weil es im Bundestag keine Möglichkeit zum Dialog gab. Wir wären hingegangen, wäre eine Aussprache geplant gewesen.
Göring-Eckardt: Als Putin 2001 im Bundestag sprach, gab es auch keine Aussprache.
Wagenknecht: Da war ich noch gar nicht im Bundestag, und das ist doch kein Argument, auch da hätte man eine Aussprache machen können. Wenn Selenskyj jetzt mit dem Feuer spielt, kann man das mit seiner Verzweiflung rechtfertigen. Trotzdem ist es ein Spiel mit unser aller Leben! Radaranlagen der Nuklearstreitkräfte in Russland anzugreifen, wie die Ukraine das zweimal getan hat, kann einen atomaren Konflikt auslösen. Selenskyj versucht, die NATO in den Krieg reinzuziehen. Er spricht auch nicht mehr für die ganze Ukraine, dort gibt es nicht wenige, die sich Frieden wünschen. Das war eine inszenierte Jubelveranstaltung im Bundestag. Da machen wir nicht mit. Ich hätte gerne eine Debatte mit Selenskyj geführt.
Göring-Eckardt: Sie wollten ihm ja nicht mal zuhören. Wann waren Sie denn mal in der Ukraine? Dort kann man mit ukrainischen Politikern jederzeit debattieren.
Wagenknecht: Na, Sie wissen wahrscheinlich, dass Herr Melnyk öffentlich dazu aufgerufen hat, mich umzubringen. Ich fahre nicht in ein Land, wo ich Angst haben muss, nicht zurückzukommen.
Göring-Eckardt: Andrij Melnyk sprach davon, dass Sie für Ihre Haltung zu Putin „noch zur Rechenschaft gezogen“ würden, „sehr bald“. Die Bundestagspräsidentin kritisierte den „drohenden Charakter“ der Wortwahl.
Wagenknecht: Das ist eine eindeutige Drohung eines offiziellen Regierungsvertreters der Ukraine gegen mich. Besonders einladend ist das nicht, zumal ukrainische Behörden in der Vergangenheit Feindeslisten verbreitet haben, auf denen sich auch deutsche Politiker befanden. Solche Äußerungen zielen darauf ab, Meinungen, die von der Position der ukrainischen Regierung abweichen, zu diskreditieren. Wer für die Beendigung des sinnlosen Abnutzungskriegs in der Ukraine ist, wird als Putin-Versteher gebrandmarkt. Ich halte die Verrohung des Diskurses für besorgniserregend.
Göring-Eckardt: Nun ist Melynk nicht mehr der ukrainische Botschafter in Deutschland. Und es ist sehr viel diskutiert worden mit Selenskyj, er war bei der Wiederaufbaukonferenz, es gab zig Panels, es gab Besuche von ukrainischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus Opposition wie Regierung. Nur weil Sahra Wagenknecht nicht mit Herrn Selenskyj direkt reden konnte …
Wagenknecht: Nein, weil im Bundestag nichts anderes möglich war als Standing Ovations.
der Freitag: Wieso führen Sie nicht mehr Gespräche mit Ukrainern?
Wagenknecht: Ich habe sogar Debatten mit Herrn Melnyk geführt, teils öffentlich nachlesbar. Ich habe auch Mailwechsel mit ukrainischen Flüchtlingen, die in Deutschland sind – ehrlich gesagt ist das sehr differenziert. Manche beschimpfen mich. Aber es gibt nicht wenige, die mir sagen, dass sie Selenskyj hassen, weil er nicht mehr bereit ist, einen Schritt Richtung Frieden zu gehen. Die haben große Angst, auch um ihre Brüder, Söhne und Männer.
der Freitag: Russen und Ukrainer haben in Istanbul verhandelt und sind auch daran gescheitert, dass der Westen nicht bereit war, die nötigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine abzugeben. Ist das die Doppelmoral des Westens, Ziele aufzurufen, für die er das Nötige aber nicht leisten kann oder will?
„Sicherheitsgarantien bedeuten, wir werden Waffen liefern, bis auf Augenhöhe verhandelt werden kann. Nur darum geht es. Es wird kein Frieden auf dem Schlachtfeld erzeugt, das gab es in der Geschichte noch nie.“
Göring-Eckardt: Sicherheitsgarantien bedeuten, wir werden Waffen liefern, bis auf Augenhöhe verhandelt werden kann. Nur darum geht es. Es wird kein Frieden auf dem Schlachtfeld erzeugt, das gab es in der Geschichte noch nie. Aber Putin hat vor und nach seinen Wahlen verkündet: Wieso soll ich jetzt mit der Ukraine verhandeln? Sie ist doch viel schwächer, die verlieren. Das ist genau der Punkt: Es muss auf Augenhöhe verhandelt werden können. Nur dann kann es einen gerechten Frieden geben.
der Freitag: Und wann wird das sein?
Göring-Eckardt: Sobald Putin aufhört, zu bombardieren, Land zu rauben, die Ukraine einverleiben zu wollen. Dann sofort. Und ehrlich, es widert mich an, dass immer so getan wird, als sei „der Westen“ am Zug. Die russische Armee hat schwerste Kriegsverbrechen begangen, in Butscha oder Jahidne, um nur zwei der Orte zu nennen. Gleichwohl gibt es die ganze Zeit über diplomatische Initiativen. Der ukrainische Vizeaußenminister trifft sich mit seinem chinesischen Kollegen, auch in der Schweiz wurde über Frieden diskutiert. Das Schlimmste für die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer ist weniger der Krieg als die Angst, in einem Putin-Regime leben zu müssen. In einer Bombennacht saß ich im Hotelbunker, während eine Frau mit ihren Kindern in der kalten Tiefgarage war. Die Frau habe ich am nächsten Tag gefragt: Was ist das Schlimmste für dich? Ich war sicher, sie sagt: Wenn mein Haus getroffen wird. Aber sie sagte: Das Schlimmste wäre, wenn Putin Macht über uns bekommt, ich lande dann im Gulag
der Freitag: Spricht das gegen Frau Wagenknechts Plädoyer für ein Einfrieren der Front?
Göring-Eckardt: Was Frau Wagenknecht vorschlägt, ist genau, was 2014 passiert ist: Waffenstillstand, dann wird verhandelt. Das Ergebnis war: Es wurde weiter vergewaltigt, weiter auf der Krim unterdrückt. Es gab 2014 eben keinen Frieden. Sondern Putin nutzte die Zeit, um dann die ganze Ukraine anzugreifen. Es ist mehr als zynisch, der Ukraine heute diese alte Strategie erneut zu unterbreiten. Für mich geht es hier auch um historische Verantwortung: In der Ukraine verloren im Zweiten Weltkrieg über acht Millionen Menschen ihr Leben, davon 1,5 Millionen ukrainische Jüdinnen und Juden. Aber auch darum, dass Frieden in Europa nur herrscht, wenn es keinen Diktatfrieden gibt.
der Freitag: Frau Wagenknecht, können Sie nachvollziehen, dass viele Ukrainer ein Leben unter Putin als Höllenvorstellung empfinden und sich nicht als Verhandlungsmasse hergeben wollen?
Wagenknecht: Niemand würde darüber verhandeln, dass Putin die gesamte Ukraine annektiert. Andersherum: Wenn man nicht verhandelt, besteht eher die Gefahr, dass die Russen immer weiter vorrücken. Die Signale aus Moskau, einen Waffenstillstand an der jetzigen Frontlinie zu akzeptieren, würde für den Rest der Ukraine selbstverständlich bedeuten, sie bleiben in der Ukraine. Im Donbass müssen perspektivisch die Menschen entscheiden. Die Ukraine ist ein gespaltenes Land. Es gibt einen russischsprachigen Teil …
Göring-Eckardt: Der ist aber nicht gleich russisch!
Wagenknecht: … in dem nicht alle begeistert sind, wenn Herr Selenskyj kommt.
„Wann sagt Putin, er hört mit diesem Krieg auf? Dann können wir über alles reden. Er hat es in der Hand.“
Göring-Eckardt: Das ist zynisch. Da wurden Leute aus Russland angesiedelt, und jetzt sagen Sie, die seien doch russisch. Wann sagt Putin, er hört mit diesem Krieg auf? Dann können wir über alles reden. Er hat es in der Hand. Ernsthaft, Frau Wagenknecht, anders als Gerhard Schröder, der wirtschaftliche Interessen hat, sind Sie doch jemand, die sagen könnte: Ich kümmere mich jetzt darum. Nach Russland können Sie ja fahren …
Wagenknecht: Ich habe doch nicht die Rückendeckung, mit Putin zu verhandeln, der lacht mich aus!
Göring-Eckardt: Versuchen Sie es doch mal. Gregor Gysi hat das 1999 bei Slobodan Milošević in Belgrad probiert.
Wagenknecht: Das hat ja auch nicht den Krieg verhindert. Ich finde, dass Olaf Scholz den Weg über Gerhard Schröder nutzen sollte, um auszutesten, was geht.
Göring-Eckardt: Schröder war ja da. Passiert ist nichts.
Wagenknecht: Schröder hat gesagt, Putin will verhandeln. Wenn man das nicht aufgreift …
der Freitag: Warum baut Putin eine langfristige Kriegsökonomie auf? Vielleicht doch, um in ein paar Jahren das Baltikum anzugreifen …?
Wagenknecht: Die NATO gibt zurzeit zehnmal so viel für Rüstung aus wie Russland. Ein Angriff auf NATO-Territorium wäre militärischer Selbstmord. Dass Putin jetzt eine Kriegsökonomie hat, liegt daran, dass er Krieg führt und sich wohl darauf einrichtet, ihn noch lang führen zu müssen. Die Amerikaner haben ein Interesse, dass dieser Krieg lang andauert, damit er Russland schwächt. Das sagt der US-Verteidigungsminister auch öffentlich: Bei der Ramstein-Konferenz im April 2022 wurde ganz klar gesagt, es ginge darum, Russland über diesen Krieg zu schwächen – angeblich, damit es nicht noch mal ein Land überfallen kann.
Göring-Eckardt: Ja, darum geht es! Dass Russland nicht noch mal ein Land überfallen kann!
der Freitag: Teilen Sie die Sorge, dass sich in Russland eine Eigendynamik in Gang setzt, die zu mehr Kriegen führen kann?
Wagenknecht: Natürlich. Je länger der Krieg geht, desto größer die Gefahr, dass sich auch in Russland Kräfte durchsetzen, die noch wesentlich aggressiver sind als Putin. Es gibt dort Leute, die ernsthaft diskutieren, dass man dem Westen wieder die Angst vor der Atombombe beibringen muss und dafür vielleicht mal eine auf Berlin werfen sollte.
der Freitag: Manche sagen, Putin habe längst kein Interesse an Frieden mehr.
Wagenknecht: Aber warum signalisiert er es dann? Ich kenne Putin nicht, ich habe keinen Kontakt zu ihm, aber er hat immer wieder gesagt, er will verhandeln. Die Türkei, China oder auch der Papst haben angeboten, zu vermitteln.
„Verhandeln heißt für Putin: Unterwerfung der Ukraine. Gerechter Frieden braucht Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen.“
Göring-Eckardt: Verhandeln heißt für Putin: Unterwerfung der Ukraine. Gerechter Frieden braucht Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Für mich gehört dazu, dass Putin die mehr als 20.000 entführten Kinder freilässt und zurückbringt. Nur so kann es bei Verhandlungen Vertrauen geben.
Wagenknecht: Natürlich. Aber genau darüber muss man doch verhandeln!
Göring-Eckardt: Darüber wird ja verhandelt – ich habe Kinder getroffen, die über Verhandlungen zurückgekommen sind. Es wird permanent verhandelt.
Wagenknecht: Warum verhandelt man nicht über ein Kriegsende?
Göring-Eckardt: Erst bei einer gleich starken militärischen Aufstellung wird es zu ernsthaften Verhandlungen kommen können.
Eine Regierung mit BSW und Grünen – in Thüringen denkbar?
der Freitag: Wird das Thema Krieg die Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg dominieren?
Göring-Eckardt: Es treibt viele Leute um, mir begegnet das bei Veranstaltungen im Osten wie im Westen Deutschlands gleichermaßen. Die Befragungen dazu zeigen auch, dass die Menschen eine differenzierte Meinung haben.
der Freitag: Ist es mit dem BSW schon wieder vorbei, wenn der Krieg doch bald endet?
Wagenknecht: Ich wäre sehr froh, wenn der Krieg vorbei wäre und wir im Wahlkampf mehr über andere Themen reden könnten: Die Menschen sorgen sich wegen der hohen Preissteigerungen, der schlechten Renten, der wirtschaftlichen Lage, der drohenden Deindustrialisierung. Gerade im Osten gefährdet das Verbrenner-Aus viele Automobilzulieferer. Die hohen Energiepreise treiben die Unternehmen aus dem Land.
der Freitag: Sie liegen bei Sozialpolitik nicht so weit auseinander. Frau Göring-Eckardt, was wäre das geringere Übel: mit Christian Lindner oder mit Sahra Wagenknecht in einem Kabinett zu sitzen?
„Ich weiß nicht, wie Sahra Wagenknecht ist, wenn sie regiert. Das hat sie noch nicht gemacht. Das kann sich ja ändern.“
Göring-Eckardt: „Übel“ wäre nicht meine Wortwahl. Ich kann das aber nicht wirklich beurteilen. Ich sitze ja nicht mit Christian Lindner im Kabinett, ich sitze mit Herrn Kubicki in einem Gremium, das ist ausreichend. Ich weiß nicht, wie Sahra Wagenknecht ist, wenn sie regiert. Das hat sie noch nicht gemacht. Das kann sich ja ändern.
der Freitag: Frau Wagenknecht, wäre das Regieren mit den Grünen in Sachsen oder Thüringen eine Option?
Wagenknecht: Im Osten sind alle gehalten, nach den Wahlen zu versuchen, eine stabile Regierung mit einer vernünftigen Ausrichtung zu bilden. Wir haben in Thüringen seit Jahren diese Minderheitsregierung, das ist ein Problem. Man ist nicht handlungsfähig, das merken die Menschen. Aber es gibt gravierende Differenzen zwischen uns und den Grünen, das wäre ganz sicher nicht unser Wunschpartner.
der Freitag: Eine andere Steuerpolitik wollen Sie aber beide.
Wagenknecht: Abgesehen davon, dass Steuern keine Landespolitik sind: Nicht nur Christian Lindner lügt, wenn er sagt, es gibt keine Steuererhöhungen durch die Ampel. Es gab Steuererhöhungen, aber nur für die kleinen Leute: Mehrwertsteuer auf Gas, der CO₂-Preis, Netzentgelte. Wir wollen denen, die jetzt kämpfen müssen, das Leben leichter machen und werden deshalb auf keinen Fall in eine Landesregierung eintreten, die die gleiche Politik macht wie vorher. Wir sind keine Mehrheitsbeschaffer für ein Weiter-so.
Göring-Eckardt: Wir kommen in den ostdeutschen Landtagen in die Situation, in der die demokratischen Kräfte versuchen müssen, eine Regierung zu bilden – diese Einschätzung teile ich.
der Freitag: Sie würden mit dem BSW zusammenarbeiten?
„Regierungsbildung ist kein Wünsch-dir-was. […] Es gibt Situationen, da muss man Unmögliches hinbekommen, um Schlimmstes zu verhindern.“
Göring-Eckardt: Thüringen braucht eine stabile und verlässliche Regierung. Wenn ich mir das Landesprogramm des BSW minus Ideologie angucke, würde ich sagen: Das ist eine Wundertüte, inhaltlich schwierig, wir sind uns in einer ganzen Reihe von Fragen nicht einig. Aber Regierungsbildung ist kein Wünsch-dir-was. Ich habe schon ein paar Koalitionsverhandlungen geführt. Es gibt Situationen, da muss man Unmögliches hinbekommen, um Schlimmstes zu verhindern. Wir haben es bei der AfD mit einer rechtsradikalen Partei zu tun, gerade in Thüringen. Die darf auch keine Sperrminorität erhalten, denn bei mehr als einem Drittel der Sitze könnte sie Abstimmungen blockieren.
der Freitag: Welche gemeinsamen Projekte mit dem BSW können Sie sich vorstellen?
Göring-Eckardt: Ich kann Projekte nennen, die von der nächsten Regierung in Thüringen angepackt werden müssen. Erstens, dass wir wirklich weiterkommen mit der Verbindung zwischen Ökologie und Gerechtigkeit. Unter den schwierigeren Klimabedingungen leiden am meisten die Leute mit dem wenigsten Geld, die brauchen Unterstützung. Zweitens ist mir die Kindergrundsicherung wichtig. Kann man dafür sorgen, dass es den Kindern im Land besser geht, sage ich: Sofort! Rentenpolitik, fürchte ich, ist mehr Bundessache.
Wagenknecht: Ja, aber da kann man im Bundesrat was machen. Wir fordern, Renten bis 2.000 Euro von der Steuer zu befreien, das wäre eine Bundesratsinitiative wert. Für mich ist auf Landesebene die Bildungspolitik wichtig. Das ist auch ein Ost-West-Thema: Dass der Lehrermangel in Thüringen groß ist, hat auch damit zu tun, dass viele Thüringer in Bayern arbeiten, weil sie dort bessere Konditionen haben. Man muss sich auch die Lehrpläne angucken. Und wir fordern: Smartphones raus aus der Grundschule. Dänemark, Schweden und viele andere, die stark auf die Digitalisierung der Bildung setzten, haben nun eine 180-Grad-Wende gemacht, weil Studien belegen, dass das den Wissenserwerb erschwert, nicht erleichtert.
der Freitag: Sehen Sie das auch so? Smartphones raus aus der Grundschule?
Göring-Eckardt: Persönlich ja, aber davon hat man halt weder Digitalkompetenz noch genügend Lehrerinnen und Lehrer. Mit so einfachen gefälligen Sätzen hat man noch keinen Cent mehr für Schulen, die viel individueller entscheiden können sollten.
der Freitag: Also arbeiten nach den Wahlen einfach wieder alle außer der AfD zusammen?
Wagenknecht: Nein, diese All-Parteien-Koalitionen sind ein Konjunkturprogramm für die AfD.
„In Thüringen ist, wenn die Grünen nicht in den Landtag kommen, die Gefahr relativ groß, dass Herr Höcke sogar allein regieren oder sabotieren kann.“
Göring-Eckardt: Das sehe ich ähnlich. Ich wäre dankbar, wenn es anders ginge und man wieder sehen könnte, wie ein konstruktiver Streit zwischen einer demokratischen Opposition und einer demokratischen Regierung aussieht. Aber in Thüringen ist, wenn die Grünen nicht in den Landtag kommen, die Gefahr relativ groß, dass Herr Höcke sogar allein regieren oder sabotieren kann.
der Freitag: Wenn wir nicht gerade über Krieg und Frieden reden, sind Sie sich nicht so uneinig. Sprechen Sie eigentlich noch Russisch?
Wagenknecht: Ich habe es in der Schule gelernt, zum Abitur sogar relativ gut gesprochen. Aber es ist leider mangels Praxis verschüttet.
Göring-Eckardt: Ich spreche es manchmal, weil es eine Brücke ist, zu Ukrainern etwa. Aber wir haben in der DDR in der Schule ein komisches Staatsrussisch gelernt. Das fiel mir auf, als meine Kinder in den 1990ern und 2000ern Russisch lernten – die kennen Wörter, die ich noch nie gehört hatte. „Babotschka“ etwa: Schmetterling.