11. Dezember 2023

Richtig gut streiten

Zum Adventsempfang der Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck habe ich über Streit und eine gesunde Streitkultur für den gemeinsamen Umgang gesprochen.

Warum wir streiten müssen und wie wir streiten können: Im Parlament, in den sozialen Medien, in der Kirchengemeinde – und am Kaffeetisch

Streit hat meist keinen guten Leumund. Nicht jetzt in der Adventszeit, und schon gar nicht an Weihnachten, das wir gern als Fest der Liebe feiern. Den lang gehegten Familienzwist haben wir nun schon jahrelang verdrängt. Da muss er doch nun nicht ausgerechnet jetzt ausbrechen. Streit hat auch gesellschaftlich und politisch meist keinen guten Ruf. Warum muss diese Regierung dauernd streiten? Und wenn in sozialen Medien Hass und Hetze hochkochen und sich immer öfter auch auf der Straße fortsetzen, dann zieht sich mancher lieber ins Private zurück. Streit hat schließlich auch in unserer Kirche meist keinen guten Leumund. Nötigt uns nicht die Nächsten-, ach, was sag ich?: Feindesliebe, besser doch noch die andere Wange hinzuhalten als zu widersprechen? „Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streitsüchtig sein“, fordert schon der Zweite Timotheusbrief (2,24) ultimativ.

Streit gehört dazu. In Gesellschaft, Politik, Kirche und sogar am Kaffeetisch.

Ich aber will eine Lanze für den Streit brechen. Streit gehört dazu. In Gesellschaft, Politik, Kirche und sogar am Kaffeetisch. Und damit bin ich bei meiner ersten These:

Warum wir streiten müssen

Streit gehört dazu. Das sage ich als Christin. Man könnte sogar sagen: Streit hat in unserer Kirche Tradition. Denken wir nur an die Reformatoren und Reformatorinnen. Unsere Kirche ist ein Kind des Widerspruchs. Die Protestation der evangelischen Reichsstände 1529 hat uns den Namen gegeben. Hier stehen wir, wir können nicht anders. Gott helfe uns und Amen.

Dann Jesus. Von ihm ist der Satz überliefert „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt 10,34b) Und auch die Evangelien wissen gleich von mehreren konfrontativen Situationen. Jesus wirft die Händler aus dem Tempel. Er ermahnt die unbußfertigen Städte mit Weherufen. Und nicht zuletzt sein sprichwörtliches „Ich aber sage euch…“, das er Gläubigen wie Zweiflern entgegenhält. Jesus streitet mit Argumenten und gibt Unbedachtes zu bedenken. Weniger Schwert – mehr Florett.

Aber lassen sie uns gemeinsam noch einen Schritt weiter gehen, denn ich will sie verwirren. Im Advent haben uns die Traditionen fest im Griff: für manche Lust und Wonne, für andere Frust und Abwehr. Der richtige Moment also für einen zweiten Blick auf vermeintlich Altbekanntes. Deshalb lassen Sie uns auf eine Geschichte schauen, die wir alle kennen – oder vielleicht auch nur zu kennen glauben. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel:

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. […] Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! […] lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. […] Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns […] ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.

Seit dem Kindergottesdienst war mir glasklar: Das Projekt der Babylonier war ein himmelhoher Turm, der Gottes Größe spottet. Hybris. Dagegen schreitet Gott ein. Und macht aus der einen Sprache, die anfangs alle sprachen, viele. Die Babylonier missverstehen einander. Das Babelprojekt scheitert. Jürgen Ebach, der große Exeget vieler Kirchentage und lange Professor in Bochum hat mich zu Anderem überzeugt und meinen Kinder[gottesdienst]glauben zurechtgerückt. Er ließ mich nämlich eine Bibelseite zurückblättern. Und was findet sich da? Eine sogenannte Völkertafel. Unmittelbar vor der Turmbaugeschichte eine schillernde Völkervielfalt mit all ihren verschiedenen Sprachen. Nicht die eine Sprache steht also am Anfang, sondern die vielen. Das Babelprojekt will stattdessen vereinheitlichen, alle im Mainstream bitte, keine Abweichung. Die Sprache dort ist ein-eindeutig, mechanisch, ohne Zwischentöne: Ziegel ziegeln, im Brand brennen. so kann man auch übersetzen.

Gott hat gott-sei-dank gar keine Lust auf Einfalt und wollte sich wohl auch nicht langweilen mit seiner Schöpfung

Auch die Menschen sollen sich vereinheitlichen, uniformistisch. Sich einem Ziel und einem Willen unterwerfen. Es geht Punktum um Macht. Und der Turm symbolisiert diese Einheit und sichert sie. Dagegen schreitet Gott ein, stiftet Verwirrung und rettet so die ursprüngliche Unterscheidbarkeit. Und blättere ich eine Bibelseite weiter, wird da vom ersten Exodus der Bibel berichtet. Abram zieht aus, weg aus dem uniformen Babel-Land, hinein ins gelobte Land. Der Stammvater Israels ist ein gerade noch glücklich Entkommener, entflohen aus der Tyrannei der Gleichmacherei. Hinein in die Verheißung des Rechts auf So-Sein, auf sich entfalten – „so zahlreich wie die Sterne am Himmel“. Das Babelprojekt dagegen: Nur eine dumme Idee, die den Laden einen zu langen Moment aufgehalten hat. Gott hat gott-sei-dank gar keine Lust auf Einfalt und wollte sich wohl auch nicht langweilen mit seiner Schöpfung. Der Himmelsturm war abgesagt. Das Mensch-Sein dafür angesagt.

Also: Zu Gottes Plan mit seinen Menschen gehört der Unterschied. Von Anfang an. Gott mutet uns die vielen Sprachen zu. Die Verwirrung des Missverstehens und das Ringen ums Verstehen. All die Zwischentöne, die andeutenden Uneindeutigkeiten und offenen Enden, die jede Kommunikation enthält, selbst die in gemeinsam geteilter Sprache. Und als Thüringerin will ich sie jetzt gar nicht in die Wirrungen von Sprache mitnehmen, von Grillhähnchen und Broiler, von dreiviertel und viertel vor oder von Supermarkt und Kaufhalle. Gott will, dass wir reden müssen. Aber keine Zumutung ohne Verheißung: Im Verstehen-Wollen gehen wir über uns selbst hinaus. Wir verstehen mehr als wir uns selbst erklären können. Wir brauchen die verschiedenen Sprachen. Wir müssen streiten.

So weit als Christin gesprochen. Doch auch als Demokratin komme ich zu demselben Schluss: Wer in der Demokratie leben will, die muss mit Streit leben.

Warum? Artikel 20 unseres Grundgesetzes sagt: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Das Volk steht dort zwar im Singular. In Wahrheit aber ist es ein Plural. Gemeint sind unterschiedlichste Individuen und ihre oft verwirrenden Meinungen, Probleme, Ideen und Vorlieben. Sie alle haben das gleiche Recht, in einer Demokratie beteiligt zu sein. Damit die vielen Souveräne des demokratischen Grundgesetzes ihre Staatsgewalt aber miteinander ausüben können, müssen Wort und Widerwort öffentlich hörbar vorgetragen werden. Nur dann kann Meinungsbildung stattfinden. Streit ist also das Selbstverständlichste auf der Welt in einer Demokratie. Man könnte sogar sagen: Demokratie ist, wenn der Streit ausgetragen wird, mit Respekt natürlich und ohne Gewalt. Und wo kein Streit ist, da kann letztlich auch keine Demokratie sein.

Streit nur um des Streitens willen ist destruktiv. Streit um der Lösung willen, für solchen Streit will ich eine Lanze brechen

Doch Streit ist kein Wert an sich. Streit nur um des Streitens willen ist destruktiv. Streit um des Verstehens willen; Streit um der Lösung willen, für solchen Streit will ich eine Lanze brechen. Und damit wird die zweite Frage umso dringlicher und unabweisbarer:

Wie wir streiten können

Wie muss unser Streiten sein? Mit Augenzwinkern formuliert: Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich mich mit dir darüber gestritten habe? Doch so flapsig das zunächst klingen mag, so ernst gemeint ist es doch. Denn „sich eine Meinung bilden“ ist etwas anderes als „eine Meinung haben“. Um mir eine Meinung zu bilden, brauche ich Sie alle: Sie alle mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Standpunkten. Wenn ich wissen will, wo ist stehe, muss ich die Augen aufmachen, um zu sehen, wer, wo, wie weit entfernt von mir, neben oder am wichtigsten, hinter mir steht. Erst im Verhältnis zu anderen Positionen kann ich meine eigene Position ausloten. Wenn ich beim Gegenüber Fragezeichen sehe, dann ist mein Argument wohl noch nicht klar genug. Wenn ich Widerspruch provoziere, findet mein Gegenüber treffsicher die Schwachstelle in meinem Argument. Hinterfragt meine unausgesprochene Vorannahme. Fordert mich heraus, mit anderer Perspektive zu sehen, was ich bisher nicht wahrgenommen hatte.

Im Feuerbad des Streits schärfe ich meine Argumente und bilde meine Meinung. Im Streit kann ich meinen Standpunkt festigen, ihn anpassen oder: ganz ungewöhnlich, also quasi fast un-denkbar: ihn sogar verändern. Im Streit kann ich erkennen, dass es vielleicht sogar mehr als eine vernünftige Antwort auf ein und dieselbe Frage geben kann – was für eine verrückte Sache! Streitend muss ich bereit sein, meine Selbstverständlichkeiten verwirren und herausfordern zu lassen. Aber auch, den anderen einen anderen sein zu lassen. Ihn nicht zu vereinnahmen. Das Fremde in ihm, das vielleicht sogar Be-fremdende, anzusehen und ernst zu nehmen.

Streit, soll es richtig guter Streit sein, braucht Rahmen und Regeln.

Das ist meine erste Antwort auf die Frage nach dem Wie des Streitens. Vielleicht etwas allgemein. Doch noch eine zweite Antwort will ich geben, und die wird schon konkreter. Sie lautet: Streit, soll es richtig guter Streit sein, braucht Rahmen und Regeln.

Zuerst der Rahmen. Schon der biblische Prediger weiß: „Streit hat seine Zeit.“ (Koh 3,8b) Streit hat eine – bestimmte, abgrenzbare – Zeit. Und Nicht-Streit ebenso. Streit hat vielleicht auch einen – bestimmten, abgrenzbaren – Ort. Und Nicht-Streit auch. Es tut unserem Streiten und Ringen gut, wenn wir ihm einen Rahmen geben. Gelegenheit, um die Argumente auszutauschen, um die Standpunkte zu klären, um die Meinungen zu bilden oder fortzubilden. Einen Rahmen, in dem der Streit stattfindet, und der auch irgendwann und irgendwo wieder endet.

Doch der Rahmen allein reicht nicht. Es tut dem Streiten gut, wenn es eine Streitkultur gibt. Möglichst eine, die alle teilen. Regeln, die Streit erst möglich machen. Da ist zuerst der Wille, sich überhaupt zuzuhören. Im Sommer auf meiner Demokratie-Tour habe ich das Gegenteil erlebt: Menschen, die mich nur an-schreien wollten, nicht aber an-hören. Also, siehe oben, das Gegenteil von Demokratie. Das Zweite, das Streit unmöglich macht: Wenn man nicht gegen Argumente streitet, sondern gegen Menschen. Wenn man den Anderen verunglimpft. Diskreditiert. Ihn willentlich missversteht. Oder ihm Falsches unterstellt. Das ist Streit nicht um des Verstehens, sondern um des Missverstehens willen. Das pervertiert ihn in sein Gegenteil. Es ist wichtig, hier klare Grenzen zu ziehen gegen Desinformation und Fake News.

Für eine gute Streitkultur helfen klare Regeln. Ich will das am Beispiel des demokratischen Streits ausführen. Und damit komme ich zu meinem nächsten Punkt:

(Wie wir gut streiten können…) im Parlament

Man könnte sagen: Demokratie ist eine Form, den Streit zu kultivieren. Mit Rahmen und Regeln. Einige davon stehen schon im Grundgesetz: Das Prinzip der repräsentativen Demokratie in Artikel 20. Oder die Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung in Artikel 21. Beides Verfahren, ein Rahmen, damit das Volk seine Staatsgewalt ausüben kann. Und gerade in einer Zeit, in der Parteien nicht den besten Ruf haben, sei das noch einmal gesagt: der Verfassungsauftrag an sie ist, an der Willensbildung mitzuwirken. Das bedeutet immer auch, eine Idee zu haben, besser noch ein Konzept und Argument. Das bedeutet nicht, einfach dagegen zu sein, das bedeutet auch nicht, den Willen Einzelner oder von Gruppen durch- oder umzusetzen. Das Mitwirkungsgebot nämlich drückt genau das aus, worum es geht: nicht Diktat oder Überwältigung, schon gar nicht Überrumpelung und Populismen – mitwirken. Das ist Arbeit! Das Parlament selber ist der Ort, die Plenardebatte die Zeit des Streitens. Die Fraktionen, Parlamentariergruppen, Ausschüsse mit ihren Sitzungen und Anhörungen, die mehrfachen Lesungen eines Gesetzes geben dem Streit Struktur.

Aber auch die Plenardebatte selbst hat Regeln. Sie finden sich in der Geschäftsordnung des Bundestages: Die Reihenfolge der Reden folgt dem Prinzip von Rede und Gegenrede. So kommen verschiedene, auch antagonistische Meinungen zu Wort. Streit wird ermöglicht. Wer „die Ordnung und die Würde des Bundestages“ verletzt, kann einen Ordnungsruf oder ein Ordnungsgeld kassieren. Wenn nötig, wird er der Sitzung verwiesen. Das passiert leider in den letzten Zeiten oft. Zu oft für ein gutes demokratisches Miteinander. Da werden Kleidung und Frisur kommentiert, wenn Frauen ans Pult treten. Und manchmal reicht es schon, wenn jemand das Schicksal Geflüchteter thematisiert, damit Geschrei beginnt.

Ordnungsrufe verteilt das Präsidium gegen Mitglieder verschiedener Fraktionen. Aber das Verunglimpfen, das persönliche Infragestellen und Angreifen, das erleben wir von ganz rechts und nur von dort. Deswegen streite ich dafür, dass diejenigen, die mit Anstand streiten, die Demokratinnen und Demokraten, beieinanderbleiben. In babylonischer Unterscheidbarkeit zwar, aber doch im gemeinsamen Willen zu verstehen, in der geteilten Mühe um eine Lösung.

Wenn es gut läuft, dann kann das Parlament eine Schule des demokratischen Streites sein.

Denn das Parlament ist das Schaufenster des demokratischen Streites. Dort kann man zusehen, wie gestritten und gerungen wird, kann mitgehen oder sich aufregen, kann sein eigenes Urteil schärfen. Wenn es gut läuft, dann kann das Parlament eine Schule des demokratischen Streites sein. Politikerinnen und Politiker können in ihrem Streiten zu Vorbildern werden.  Deswegen darf dem politischen Diskurs der Diskurs nicht abhandenkommen. Unterschiede und Alternativen müssen deutlich werden. Politische Programme müssen unterscheidbar sein. Das alles im Rahmen – da ist er wieder, der Rahmen! – im Rahmen unserer demokratischen Werte. Denn Demokratie funktioniert nicht, wenn Egoisten oder Fremdenfeinde das Menschsein einiger infrage stellen. Die unantastbare Würde des Menschen ist nicht verhandelbar. Demokratie funktioniert ebenso wenig, wenn die planetaren Grenzen geleugnet werden. Auch das unterschreitet den Rahmen des guten, des konstruktiven Streitens.

Blicken wir auf die Debatte um Geflüchtete im Jahr 2023. Ich fürchte, wir kommen keinen Schritt weiter, wenn wir so streiten wie gerade, in einem Brei aus Besorgnissen und zurecht genannten Schwierigkeiten. Kaum eine, die nicht als erstes sagt, wie schwer es die Kommunen haben und die Behörden und überhaupt. Nur einen Moment von der anderen Seite betrachtet: Haben wir nicht schon lange zu wenig Lehrerinnen? Zu wenig Wohnraum? Zu wenig Digitalisierung? Aber hilft es irgendwem, wenn all diese Probleme der Einfalt halber auf die geschoben werden, die sich am allerwenigsten wehren werden? Auf die, die es sowieso schon am schwersten haben?: Die Frau aus er Ukraine, die sich Sorgen um Mann, Bruder, Sohn an der Front macht. Das afghanische Mädchen, das weiß, was ihren Verwandten geschehen kann, wenn die Taliban erfahren, dass sie hier ohne Kopftuch zur Schule geht. Oder der allein übers Mittelmeer geflohene Junge, der mit ansehen musste, wie seine Kameraden ertranken.

Ich finde: Wir sollten den demokratischen Streit reaktivieren. Und das heißt nicht, im Verborgenen nach Wegen zu suchen, bis der weiße Rauch aufsteigt. Gegen die populistischen Rattenfänger hilft es nicht, politischen Streit schamhaft zu verstecken oder staatstragend zu überspielen. Es hilft nur, die Demokratie mit Leben zu füllen. Und das heißt: Dem Streit Raum und Zeit zu geben. Im Parlament. Da, wo er hingehört. Mit Rahmen und Regeln. Man darf, man sollte denen, die zu entscheiden haben, zusehen können beim Abwägen und Streiten. Und beim Aufeinander zugehen und Einigen. Und auch die Einigungen dürfen ruhig ihren Raum bekommen. Als Ergebnis der Auseinandersetzung. Als Kompromiss und Lösung. Die nicht alle Unterschiede beendet, die aber für alle tragbar ist. Öffentlich sichtbar. Nachvollziehbar. All das sind Angebote zum Selber-Denken und Meinung bilden, zum Streiten lernen. Davon braucht es mehr, nicht weniger. Denn das stärkt letztlich unsere Demokratie.

Die Demokratie ist gefährdet, wenn der Kompromiss für eine Schwäche und der Konsens für eine Zumutung gehalten werden.

Sehr schwierig, wirklich schwierig wird der Streit dort, wo seine Regeln und Verabredungen nur noch der Abgrenzung dienen, der eigenen Identitätssicherung, die keine Kompromisse erträgt und keine zweitbesten Lösungen erlaubt. Die Demokratie ist gefährdet, wenn der Kompromiss für eine Schwäche und der Konsens für eine Zumutung gehalten werden. Da gilt der berühmte Satz: Bei komplexen Problemen sind einfache Antworten immer falsch! Die einfachen Antworten, die nur Ja – Nein, Schwarz – Weiß, Eins – Null kennen, nehmen leider sehr zu, insbesondere in einem Feld, dass sich neben dem Parlament in den letzten Jahren als neue Streit-Arena aufgetan hat. Also:

(Wie wir gut streiten können…) In den sozialen Medien

Wo der Streit im Parlament kultiviert ist, wird er in den sozialen Medien von Mal zu Mal unkultivierter, der Umgangston immer rauer, die Stimmung immer gereizter, missbilligender und bewusst missverstehender. Hatespeech ist an der Tagesordnung. „Hass im Netz“, das ist schon ein feststehender Begriff. Eine Formel. Fast schon eine Floskel. Aber nicht nur. Es ist bittere Realität. Eine Befragung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft aus Jena 2020 ergab: Jede*r achte war selbst schon mal von Hatespeech betroffen. Besonders oft trifft sie jüngere Menschen und Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Auch auf meinen eigenen Kanälen sind immer mehr destruktive Kommentare zu finden. Mein Team und ich haben aufgehört, die Kommentare dort zu lesen. Der Algorithmus macht meine Beiträge zu einem Magneten: Beleidigungen, Häme und sinnloser Hass wird angezogen. Auf mich, auf meine Partei, gern auch auf die Politik als solche. Hatespeech ist kein Streit mehr. Denn sie verlässt die Regeln des Streits. Sie stellt Menschen infrage und nicht Argumente. So sehr, dass es justiziabel ist. Das Internet ist ja kein rechtsfreier Raum. Deshalb zeige ich immer wieder Kommentare an. Leider führen die Ermittlungen selten zu einem Täter – machen wir uns nichts vor: die allermeisten sind Männer – Noch seltener kommt es zu einer Verurteilung. Wenn Hatespeech kein Streit mehr ist, wieso erzähle ich das dann? Weil die eben erwähnte Studie noch ein anderes Ergebnis hatte: 54% der Befragten bekennen sich seltener zu ihrer politischen Meinung – weil sie Hatespeech fürchten! 47% beteiligen sich deshalb insgesamt weniger an Diskussionen im Netz. Hatespeech ist nicht nur kein Streit. Hatespeech verhindert Streit, verhindert Meinungsbildung, verhindert Debatte im Netz.

Hatespeech ist kein Streit mehr. Denn sie verlässt die Regeln des Streits.

Wenn wir also auf Facebook, Instagram, Twitter und Co wirklich streiten wollen, brauchen wir Plattformen, die solchen Streit ermöglichen. Die ihm Rahmen und Regeln geben. Zum Beispiel, indem sie konsequent gegen Hasskommentare vorgehen. Sonst geht genau das verloren, weshalb wir eigentlich dort unterwegs sind: um uns auszutauschen, Dinge und Erlebnisse miteinander zu teilen, eben sozial zu sein.

Eine ganz andere Arena des Streits ist unser unmittelbares Nahfeld. Was ich unter der Chiffre „Kaffeetisch“ in der Überschrift beschrieben habe, will ich noch kurz betrachten, bevor ich meine Gedanken mit dem Blick auf Kirche und Kirchengemeinde abschließe. Also:

(Wie wir gut streiten können…) am Kaffeetisch

Das Nahfeld, der Kaffeetisch, ist als Arena des Streites in vielerlei Hinsicht geradezu das Gegenteil der Sozialen Medien. Während ich bei Twitter anonym bleiben kann, zeige ich am Kaffeetisch Gesicht. Wen ich bei Facebook blocken kann, dem kann ich an der Supermarktkasse nicht aus dem Weg gehen. Kann ich mich auf Instagram einfach dem Streit entziehen, der mich nervt, ist der Nachbar hinterm Gartenzaun auch morgen noch derselbe. Kann ich mich im Netz völlig gehen lassen und auf Anstandsregeln pfeifen, muss ich beim Adventsbasar der KiTa Vorbild für die Kinder sein.

Mein Nahfeld ist der Ernstfall des Streits. Zum einen, weil ich ihm hier nicht aus dem Weg gehen kann. Ich muss ihn führen. Und das ist zugleich meine Bitte an Sie. Lassen Sie es nicht stehen, wenn nach dem zweiten Schnaps oder dem ersten Stück Stollen Hassreden beginnen, wenn es gegen Frauen geht, gegen Juden, gegen PoC oder Linke. Ich weiß, das macht den Spielraum des Weihnachtsfriedens kleiner, aber es vergrößert die Spielfläche des Beieinanderbleibens als Gesellschaft. Nicht ausweichen. Eben der Ernstfall des Streites.

Doch wo ich dem Streit nicht ausweichen kann, da lerne ich, richtig gut zu streiten. Ich muss so streiten, dass ich der wunderlichen Großtante auch bei der nächsten Kaffeetafel noch in die Augen sehen kann. Am Gartenzaun muss ich so streiten, dass ich auch morgen noch das Paket beim Nachbarn abholen kann. Am Spielfeldrand muss ich mich so sehr im Griff haben, dass der cholerische Vater nebenan trotzdem auch zum nächsten Auswärtsspiel noch meine Tochter mitnimmt. Dieser Ernstfall des Streites ist deshalb zugleich die Schule des Streitens. Im Nahfeld können wir den Rahmen des Gemeinsamen nicht so einfach verlassen. Wir sind aufeinander gewiesen. Wir müssen, besser noch: wir wollen miteinander auskommen. Ich finde: So sollten wir auch an anderen Stellen streiten. Was uns am Kaffeetisch gelingt, davon brauchen wir auch mehr in der Gesellschaft. Auf Social Media. Im Parlament. In der Demokratie. Und, ja: Nicht zuletzt auch in unserer Kirche. Womit ich meine Gedanken abschließen möchte:

(Wie wir gut streiten können…) in Kirche und Kirchengemeinde

Ich sagte es ja eingangs schon: Gerade eine Kirche der Protestation darf den gläubigen Widerspruch nicht nur mit Lippenbekenntnissen wertschätzen, sondern muss ihn aktiv kultivieren. Also buchstäblich: Eine Kultur entwickeln und pflegen, die dem Streit Raum und Rahmen gibt. Eine Streitkultur, die dem Streit nicht ausweicht oder ihn unter den Teppich kehrt. Eine, die den anderen anders sein lässt und damit rechnet, dass dieser so irritierend Andere irrwitzigerweise auch recht haben könnte, und zwar weil er eine der vielen Sprachen spricht, die Gott in Babel programmatisch eingesetzt hat. Eine Kultur, die das Verbindende nicht leugnet, sondern es mit Ausdauer sucht. Streiten im Bewusstsein der gemeinsamen Grundlage, die wir nicht selbst setzen.

Ich finde die Streitkultur in unserer Kirche oft zu lethargisch. Dabei gibt es doch genügend Stoff für Zoff auch in der Kirche. Genügend Themen, bei denen man fröhlich nicht derselben Meinung sein kann. Der Streit um Krieg und Frieden, um Waffenlieferungen zu Beispiel. Ich bin und bleibe dafür. Heute morgen war ich – auch digital – in Kiyv. Ich nahm an einer Konferenz teil, in der es um die tausenden von Russland entführten Kinder ging, denen Eltern, Heimat und Identität genommen werden soll. In der Ukraine ist der Winter brutal, Strom und Heizung fallen immer wieder aus, die Bombardements gehen weiter und die Frontkämpfe. Nicht nur Kindern will Putin ihre Identität nehmen, er will, dass die Ukraine russisch wird. Und nicht zu Europa gehören soll. Demokratie und Freiheit, das ist ihm Bedrohung. Deswegen ist es nicht nur ein ukrainischer Kampf. Es ist der Kampf um Freiheit und Frieden auf unserem gemeinsamen Kontinent. Darüber streiten wir in der Kirche. Oder nehmen wir die Auseinandersetzung über die Liturgie des Weltgebetstages aus Palästina im kommenden Jahr.

Darüber streiten wir in der Kirche. Oder nehmen wir die Auseinandersetzung über die Liturgie des Weltgebetstages aus Palästina im kommenden Jahr. Und wir können nach dem Rücktritt von Annette Kurschus als Ratsvorsitzende nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aus meiner Sicht hätte dort mehr reden – sich der kritischen Nachfrage stellen – schon früher gutgetan. Doch mit ihrem Rücktritt wird die Rede- und Gesprächskultur in der Kirche selbst zum Streitgegenstand. Wie – in welchem Rahmen und mit welchen Regeln – sollten wir miteinander streiten, damit es richtig guter Streit wird? Welche Formen haben wir? Welche bräuchten wir? Ich glaube, wir müssen in der Kirche übers rechte Streiten streiten.

Die Menschen wollen, ob Kirchenmitglied oder nicht, dass Kirche auch kontroverse Themen anspricht und sich einmischt.

Als Kirche ein Ort des richtig guten Streites sein, das könnte stilprägend sein. Vielleicht ist das sogar eine der Lehren der neuen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Die Menschen wollen, ob Kirchenmitglied oder nicht, dass Kirche auch kontroverse Themen anspricht und sich einmischt. Mal mit einer klaren Botschaft. Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt. Die Opfer sexualisierter Gewalt müssen Gehör finden, wir glauben den Betroffenen. Punkt. Jüdisches Leben in all seiner Vielfalt hat seinen Platz unter uns. Punkt. Und mal mit einem abwägenden Ringen, das unterschiedliche Positionen zu Wort kommen lässt.

Aber noch eines sagt uns diese Untersuchung. Wir werden weniger und viele trauern um die alte Volkskirche. Als Kind der DDR habe ich sie nicht erlebt. Aber Kirche im Volk: das ist doch eine sehr gute Sache. Und vielleicht ist es ja das beste Elitenprojekt, das es geben kann: wenn es nämlich etwas Besonderes ist, Christin zu sein oder Christ, wenn es etwas Besonderes ist, evangelisch zu sein, dann fordert uns das. Nicht uns abzuheben, sondern uns einzubringen. Hören wir also auf. lau zu sein. Seien wir laut! Wagen wir es, eine Meinung zu haben und sie zu sagen. Es ist nämlich erheblich, ob wir das tun oder ob wir schweigen, wenn die Schöpfung unter die fossil betriebenen Räder gerät oder das Land den Krisen statt Gemeinschaft Zerrüttung entgegensetzt. Es ist erheblich, dass unsere Kirche ein Ort ist, an dem Menschen sich nicht nur trauen, sondern vor allem auch vertrauen können. Vertrauen, auch wenn ihnen Schlimmes getan oder angetan wurde. Christenmenschen, das sage ich als Ostdeutsche, wissen, dass sie fehlen und fallen können, aber nie tiefer als in Gottes Hand. Und deswegen erheben wir uns. Deshalb gehen wir in Widerstreit und Widerstand. Aus Glauben, durch Liebe, mit Hoffnung.

Es gibt eine Zeit des Streitens. Und es gibt eine Zeit des Nicht-mehr-Streitens. Eine Zeit, sich der gemeinsamen Basis zu versichern. Sich trösten und erheben zu lassen. Ich glaube fest daran: Gerade dafür ist Kirche auch da. Im Gottesdienst lassen wir uns im besten Fall zurechtbringen. Wir erleben und feiern Gemeinschaft. Und festigen sie über allen Streit hinaus. Das muss auch sein.

Ich sage es einmal mit der dritten Strophe eine bekannten Gesangbuchliedes: Gib Frieden, Herr wir bitten: du selbst bist, was uns fehlt. Du hast für uns gelitten, hast unsern Streit erwählt, damit wir leben könnten, in Ängsten und doch frei, und jedem Freude gönnten, wie feind er uns auch sei.

Ihr Lieben! Wir haben Advent. Die Fastenzeit vor dem Christfest. Das Warten auf Ankunft. Die Sehnsucht nach Licht und Leben. Advent also: Die hohe Tür ist offen. Das Fenster zum Himmel und die Tür zur Welt. Weihnachten wird es sowieso. Wie wir ankommen, das liegt an vielem und ganz besonders an uns. Bleiben Sie fröhlich im Herzen, bleiben Sie behütet, kommen Sie gut an.

Ich danke Ihnen.