4. September 2024

Welches Land wollen wir sein?

In welchem Land wollen wir leben? Die Beantwortung dieser Frage ist gerade wichtig wie nie. Nach der Zäsur der Landtagswahl in Thüringen ist es mir wichtig, meine Gedanken dazu zu teilen.

Viele Menschen sind von den Landtagswahlergebnissen in Sachsen und Thüringen erschüttert. Zu Recht. Ich bin es auch und ich möchte heute darüber reden, wie es sich anfühlt, für mich, für andere. Und ich glaube, die Zäsur vom 1. September bewegt viele gerade. 

Als ich 1989 mit dem Baby im Tragetuch in Erfurt auf Demos ging, um für Freiheit einzutreten, Demokratie zu erringen, war das gefährlich, denn wir lebten in einer Diktatur. Was im Nachhinein als friedliche Revolution in die Geschichte einging, fühlte sich damals natürlich gefährlich an, denn Wasserwerfer standen in den Seitenstraßen und Denunzianten waren bei den Versammlungen. Ein Wunder bis heute, dass es gelungen ist, die Freiheit friedlich zu erringen, mit wenigen zuerst, mit vielen später, gemeinsam mit Gleichgesinnten in den Ländern im Osten Europas. 

Die errungene Freiheit und das Gefühl der Sicherheit hat erste Kratzer bekommen in den 90ern, als Jugendliche gejagt und geschlagen wurden, die in irgendeiner Form als links (oder grün, jedenfalls als progressiv) identifiziert wurden. Später nannte man diese Jahre die Baseballschlägerjahre. Dennoch war immer klar, dass Demokratinnen beieinanderstehen, dass im Zweifel die Bereitschaft besteht, um über das eigene politische Lager hinaus eine Politik der Vernunft, der Mitte, der Mitmenschlichkeit, der Stärkung des Rechtsstaates zu stützen. Das war anstrengend, aber hat immer die Freiheit zum offenen Denken bedeutet. Die anderen zu verstehen, sie als Demokrat*innen anzuerkennen, die eben andere Wege und Lösungen haben, fällt im politischen Alltag nicht immer leicht. Ich komme aus dem Bündnis 90. Davon geprägt, war es für mich immer klar, nicht ideologisch zu denken, sondern Bündnisse zu schmieden, manchmal nur für eine Sache, obwohl man in einer anderen extrem über Quer lag.

Ist das mir gelungen? Ich hoffe: Meistens. Doch so – wie in jüngster Zeit die politischen und medialen Debatten – geführt werden, mit der Immer-währenden-Aufmerksamkeitsjagd und der Zuspitzung: hat es dieser Politikstil schwer.

Und es bleibt nicht nur bei der Jagd nach der schnellen spitzen Schlagzeile. Debatten sind aggressiver geworden, nicht nur verbal, auch physisch. Leute haben wieder Angst, sich zu engagieren, das Wort zu ergreifen, aufzustehen, wenn Unrecht geschieht. Gerade im Dorf, in der kleinen Gemeinde ist der Druck oft viel größer als in der Großstadt. Der Anpassungsdruck, der Druck nicht genau hinzusehen oder hinzuhören, wenn in der Familie, in der Nachbarschaft rechte Parolen oder Verschwörungen die Runde machen. Ich glaube, viele ermessen gar nicht, wie stark man sein muss, jeden Tag für unsere Demokratie einzustehen, wenn es um das persönliche Umfeld geht. 

Ich habe in den vergangenen Wochen so viele Menschen getroffen, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung jeden Tag mit Leben füllen, in Vereinen, in der Kirche, in Verbänden. Und nicht wenige von ihnen fragen sich: schaffen wir das noch? Haben wir noch die Kraft? Wenn sogar die eigene Familie auf einmal reingezogen wird. Immer wieder neu anfangen, stehen bleiben, bei Anfeindungen, weiter machen, das geht nicht immer und es ist ein Geschenk, es zu können. Gerade für diejenigen deren Sorgen größer sind, als die eigenen, deren Leben unendlich schwieriger, verletzlicher ist. 

Der Demokratiekampf der letzten Wochen hat Kraft gekostet, das Ergebnis bedrückt. Als Christin denke ich an einen Psalm. In dem heißt es: „ich glaube aber doch!“ Und es ist nicht leicht, das heute auszusprechen, damit es nicht wie billiger Optimismus klingt. 

Andererseits: Ich glaube aber doch! Menschen haben Angst in meinem Land, weil sie anders aussehen, lieben, denken, reden. Sie dürfen niemals das Gefühl haben, allein gelassen zu werden. Gerade dann, wenn es droht, finster zu werden. Gerade dann, ist es notwendig, da zu bleiben, sich zusammenzutun.

Demokratie ist nicht nur ein abstraktes Regelwerk. Demokratie sind die Werte, die unser Leben tragen, wie wir miteinander umgehen – auch mit denen, die die Welt anders sehen möchten, als man selbst. 

Und ja: Eine solche Zäsur braucht Klärung. Weiter-So reicht nicht. Die Demokratie muss wieder mehr zeigen, was sie leisten kann. Weniger Scheinlösungen, weniger Streits, weniger parteipolitisches Kleinklein, mehr Miteinander.

Unsere politischen Debatten sind derzeit so aufgeheizt, dass es mehr ums sture Rechthaben, als ums Hinhören geht. In der Aufmerksamkeitsökonomie mag die ewige Zuspitzung und Diffamierung erfolgreich sein, für den Zusammenhalt ist sie Gift. Was uns verloren zu gehen droht, ist eine Haltung der Versöhnlichkeit. Eine Haltung, die das Trennende zulässt, aber danach strebt, Trennendes verbinden zu können. Wir sollten gegenseitig mehr den Gedanken zulassen, die oder der andere könnte auch einen Punkt haben. Selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung sind – und das ist normal – dann sollten wir uns doch bemühen, unabhängig von Meinungen und Ansichten gut miteinander leben zu können.

Denn die Aufgaben werden nicht kleiner. Der Klimakrise sind Wahlergebnisse egal. Putin lässt nicht von der Ukraine ab, weil gewählt wurde. Womöglich fühlt er sich sogar bestärkt. Armut schwindet in der Woche nach einer Wahl nicht. Das alles braucht Leidenschaft und Anstrengung. Wahrscheinlich mehr Anstrengung als bisher. 

Dabei helfen auch gute Nachrichten ein bisschen. Sowas wie, dass Wind, Sonne, Luft, Erdwärme, Pflanzen inzwischen vorrangig Quelle für unsere Energie sind. Noch vor 10 Jahren habe ich das gewünscht, konnte es mir aber nicht vorstellen. Weiterzumachen, damit meine und andere Enkel, wenn sie groß sind, frei atmen können, dafür ist Kraft da. 

Es mag sein, dass bei einigen jetzt Traurigkeit und Erschöpfung überwiegen. Und auch das darf und muss einen Ort haben, alles hat seine Zeit. Deshalb – und nicht nur deshalb: lasst uns beieinanderbleiben. Lasst uns darüber reden und ringen in welchem Land wir leben wollen. Lasst uns Sprechen über den Mut, den wir brauchen und die Gemeinschaft, die wir sein wollen.

Mein Bild ist das einer freien, vielfältigen Gesellschaft: ist ein zutrauendes, ein lebensfrohes Bild, eines, das die Zukunft bewahrt. Ein Land, in dem man füreinander da ist, nicht, es allen recht zu machen, Unterschiede auszuhalten, Probleme offen ansprechen, für Sicherheit sorgen, das Verbindende suchen, an Lösungen arbeiten. Es geht mir um Freiheit, die einschließt statt ausschließt. Eine umfassende Freiheit. Die Freiheit, saubere Luft zu atmen, nachts joggen zu gehen ohne Angst haben zu müssen, zu beten, wie wir wollen, zu lieben, wen wir wollen. Und auch die Freiheit, andere Entscheidungen zu treffen als die anderen. 

Eine Freiheit, die andere nicht in die Ecke stellt: Ihr Bevormunder! Verbieter! Gutmenschen! Und die genauso wenig jeden, der kritisch ist, abstempelt und meidet. Und die deutlich sagt, was droht, wenn ein Faschist unsere freiheitliche demokratische Grundordnung attackiert. 

Eine Freiheit, die den Rechtsstaat schützt, damit Menschlichkeit bleibt.

Ich glaube aber doch! Ist nicht allein ein Psalm. Der Satz beschreibt, wie unsere Bundesrepublik 35 Jahre nach der friedlichen Revolution sein kann. 

Mit euch, mit den Gutmeinenden und mit den Recht wollenden, glaube ich an ein Land, das nicht Dunkelheit und Spaltung will. Wieso sollten wir aufhören unsere Natur zu lieben und zu schützen? Warum sollten wir in jedem, der fremd ist, eine Bedrohung sehen? Ja, wir bekämpfen die, die uns wirklich bedrohen, die unsere Freiheit zerstören wollen, die unsere Werte mit den Füßen treten.

Ich glaube aber doch, dass wir das Land sind, in dem die Freiheit zu Hause ist, in dem wir auf der Seite derer stehen, die andernorts für die Freiheit einstehen, sie sogar mit Waffen verteidigen müssen. Welches Land also wollen wir sein? Viele sehen gerade das Schlechte, die Bewirtschaftung des Populismus, der Schlechtrederei, des Spaltens. Vielleicht droht in machen Teilen der sogar eine Wüstenzeit. 

Aber wir, die unsere Verfassung lieben, die unser Land schützen wollen, werden doch deshalb niemals aufhören, einen Ausweg zu suchen und denen beizuspringen, um im Bild zu bleiben, die unter Hitze und Trockenheit darben. Wir lassen uns nicht verhärten, egal wie hart die Zeit ist.

Ich glaube, dass die meisten in unserem Land sich nach Sicherheit sehnen, Nach einem Deutschland, in dem wir zusammenarbeiten und aufeinander achten. Ein Land, in dem wir gerne leben, mit Respekt und Anstand. Miteinander statt gegeneinander. Darauf kommt es jetzt an. Und ich glaube wirklich, dass wir es schaffen können.