28. Juli 2023

„Wenn ich angebrüllt werde, bleibe ich stehen“

Interview geführt von Daniela Vates. Erstveröffentlichung auf rnd.de am 28.07.2023

Frau Göring-Eckardt, die rechtsextreme AfD liegt in Umfragen in manchen ostdeutschen Ländern auf Platz 1 und im Bund bei 20 Prozent. Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, das werde sich auch wieder ändern. Sind Sie auch so zuversichtlich?

Wir müssen aktiv dazu beitragen, dass sich das ändert. Wir müssen uns rechtsextremen Tendenzen gemeinsam entgegenstellen. Dazu gehört auch, die Demokratieverteidiger zu stärken, gerade dort, wo sie einen schweren Stand haben. Gerade wir aus der Bundespolitik können hier Vorbild sein: Wenn ich auf einem Platz angebrüllt werde von rechten Demonstranten, gehe ich nicht weg, sondern bleibe stehen. Ich sehe nicht ein, dass die Rechten diesen Platz einnehmen, nur weil sie so laut sind.

So ein Zusammentreffen hatten Sie gerade auf Ihrer Sommertour durch Ostdeutschland in Dessau.

Ich habe auf dieser Tour vor allem sehr viele positive Erfahrungen gemacht. Es gibt viele, die sich seit Jahren mit hoher Intensität für die Demokratie engagieren, in Unternehmen, Gedenkstätten, in der Verwaltung, Kulturprojekten oder der Sozialarbeit. Da ist es unverhältnismäßig, wenn die größte mediale Resonanz ein Auftritt von Schreienden hat. Unter den Demonstranten gab es auch ein paar, die tatsächlich zuhören wollten, aber nicht gegen das Gebrüll ankamen. Was ermutigend war: Es gab Zuschauer, die mir mit hochgerecktem Daumen gezeigt haben, dass sie gut finden, dass jemand dagegenhält. Der Eindruck, dass in Ostdeutschland nur Demokratieverächter am Werk seien und der Osten also eh verloren sei, ist völlig falsch. So viele halten unser Gemeinwesen am Laufen, jeden Tag. Wir müssen die stärken, die sich nicht durch Lautstärke in den Vordergrund drängen. Sie brauchen Unterstützung und Aufmerksamkeit.

Welche Unterstützung meinen Sie?

Es gibt den Vorschlag von Christian Lindner, im Rahmen des Sparkurses bei Demokratieprojekten zu kürzen. Ich rate dringend davon ab. Nötig wäre eher eine Ausweitung und eine Verstetigung der Mittel. Die Leute bekommen ihre Projektmittel schon jetzt nur befristet, können also nicht richtig planen. Und jetzt will die FDP das Wenige auch noch kürzen? Gerade jetzt? Mit dem nonchalanten Hinweis, dass die Projekte ja nichts gebracht hätten. Das verkehrt Ursache und Wirkung. Das ist ein völlig falscher Ansatz, dem wir auf keinen Fall nachgeben dürfen.

Woher kommen die Umfragewerte der AfD?

In komplizierten Zeiten verfangen leichte Antworten – auch wenn sie nichts mit der Realität zu tun haben und schon gar keine Lösungen bieten. Nur weil man ein paar Mal einen Stand auf dem Marktplatz macht und Luftballons verteilt, ist das ja keine Politik, die Lösungen anbietet. Aber es ist halt Präsenz. Und da müssen die demokratischen Parteien besser werden. Es reicht nicht, Politik aus Berlin, Hamburg, München oder Köln zu denken. Der ländliche Raum, die Klein- und Mittelstädte ins Zentrum zu stellen, bedeutet in Ostdeutschland die Mehrheit der Menschen im Blick zu haben.

Laut einer Studie der Universität Leipzig fremdelt ein großer Teil in der Ostdeutschen mit der Demokratie. Woran liegt das?

Es gibt eine Veränderungsmüdigkeit in Ostdeutschland. Seit der Wiedervereinigung ging es für viele 30 Jahre lang immer wieder um Veränderung. Da ist jetzt das Gefühl: Es reicht. Und ich kann das verstehen. Wir müssen mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung dafür geben, was alles gelungen ist und wie die Leute das alles geschafft haben. Aus so einer Aufmerksamkeit entsteht neue Energie und ein Gefühl der Anerkennung. Im Übrigen ist es auch okay, wenn man sich zu erschöpft fühlt oder sich gar nicht engagieren will. Wenn dann aber nicht alles genauso kommt, wie man sich das vorgestellt hat, kann nicht die Konsequenz sein, einfach mal eine rechte Partei zu wählen. Das löst keine Probleme, sondern verschärft sie. Die AfD hat ja kein Angebot, was den Leuten im Alltag helfen würde. Im Gegenteil. Nur ein Beispiel: Die Wirtschaft, unser Wohlstand, auch unsere Sozialleistungen würden doch eine Talfahrt sondergleichen hinlegen, würde Deutschland ernsthaft, wie es die AfD will, aus der Europäischen Union austreten. Das könnten sich doch nur Reiche leisten und gerade nicht die Leute mit den kleinen Einkommen.

Die Abkehr von der Demokratie zieht sich bundesweit bis ins Bürgertum. Warum gibt es diese zunehmende Distanz?

Es gibt ja beides: Distanz und Nähe. Die Leute wollen, dass wir ihre persönlichen Probleme im Alltag lösen. Damit es keine Enttäuschung gibt, müssen wir ehrlich sagen, dass Politik nicht einfach der Lösungsdienstleister für individuelle Probleme ist, sondern dafür sorgen muss, dass der Rahmen für alle stimmt, dass Schule, Schwimmbad und Verwaltung funktionieren, dass der Arzt da ist und der Bus fährt und dass es einen fairen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen gibt, damit keiner zurückbleibt. Ja, wir müssen unser Interesse am Alltag der Menschen vermitteln und zeigen, dass wir das ganze Land im Blick haben. Es darf sich nicht der Eindruck verfestigen, wir säßen in Berlin abgekoppelt in einem Raum ohne Kontakt zur Außenwelt. Vor Ort zeigt sich ja: Es gibt nicht nur Sorgen und Nöte der Bevölkerung, sondern vor allem auch gute Vorschläge und Ideen.

Gleichwohl ist es so: Ein Problem wie das des Klimawandels wird begriffen, aber wenn es an die eigene Geldbörse geht, sind Klimaschutzmaßnahmen oft schwer zu vermitteln.

Umso wichtiger ist gutes Regieren. Dazu gehört, im Blick zu haben, welche Leute man mit welcher Entscheidung oder mit welchem politischen Vorschlag trifft. Beim Heizungsgesetz haben wir gesehen, dass die Frage der Wohnzimmererwärmung vielen wichtiger ist als die Frage der Erderwärmung. Deswegen muss man seine Schritte besonders gut erklären: Wir können nicht davon absehen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Klimakrise zu bewältigen. Aber wir suchen eine Lösung, um zu verhindern, dass Bürgerinnen und Bürger in fünf oder zehn Jahren unter den Kosten leiden. Es ist wichtig, den Leuten das nicht einfach nur hinzulegen und zu sagen: So, jetzt macht mal und wenn ihr was braucht, gibt es eine Förderung. Sondern es muss einen Diskurs geben.

Die Koalition hat sich monatelang über das Heizungsgesetz gestritten. War das ein solcher wünschenswerter Diskurs?

Es ist gut, wenn deutlich wird, dass es unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Ideen gibt. Aber entscheidend ist, dass man sich einigt, und dass Kompromisse dann auch gelten. Den Eindruck hat die Regierung nicht immer erweckt in den vergangenen Monaten. Das muss sich wirklich ändern.

Den Grünen wird vorgeworfen, sie wollten vor allem Autos und Fleischessen verbieten.

Schlagzeilen, die nur auf Verkürzung und Zuspitzung aus sind, halte ich für sehr gefährlich. Erst recht, wenn sie auch noch falsch sind. Das betrifft ja nicht nur meine Partei. Politik und auch Medien sollten selbstkritisch prüfen, wie hilfreich eine immer aufgeregtere Kommunikation ist. Gerade in komplexen Zeiten, würde ich mir manchmal mehr Ruhe wünschen. Zu Ihrer Frage: Solange der ÖPNV nicht funktioniert, dann wird man gerade auf dem Land weiter Auto fahren müssen, ist doch klar. Und natürlich braucht es erstmal überall ausreichend Ladesäulen, nicht nur in der Großstadt, sondern auch auf dem Dorf. Und wenn Menschen Fleisch essen wollen, dann können sie das auch in Zukunft tun. Politik muss sich darum kümmern, dass die Tierhaltung anständig ist und der Fleischkonsum insgesamt sinkt.

Die AfD stellt jetzt einen Landrat in Thüringen und einen Bürgermeister in Sachsen-Anhalt. 2024 wird in Thüringen, Brandenburg und Sachsen gewählt. Was passiert, wenn die AfD stärkste Kraft wird?

Für jeden Wahlausgang gilt, dass es definitiv keine Zusammenarbeit einer demokratischen Partei mit der AfD geben darf – und zwar in keiner Form. Das erwarte ich insbesondere auch von der CDU.

Die Leipziger Uni hat auch herausgefunden, dass es bei vielen Ostdeutschen verfestigte rassistische Ansichten gibt.

Das macht mir große Sorgen. Es gab diese Tendenzen schon früher, aber jetzt bleibt es nicht nur bei Einstellungen, sondern es folgen wieder Handlungen daraus. Es gibt Übergriffe auf Flüchtlingsheime, Angriffe auf Menschen auf der Straße, die Stimmung im Netz ist aggressiv. Viel zu aggressiv. Das liegt auch daran,
dass solche Positionen hoffähig gemacht werden, etwa durch die Union. Wenn man Aussagen der AfD, etwa zum Asylrecht, in den demokratischen Diskurs übernimmt und selber anfängt, Politik gegen Geflüchtete zu machen, bestätigt man die, die immer noch ein Stück weiter gehen. Wenn Thorsten Frei von der CDU
vorschlägt, das individuelle Grundrecht auf Asyl auszuhebeln, reibt sich die AfD doch die Hände.

Sehen Sie in der aktuellen Entwicklung eine Parallele zu Aufstieg der Nationalsozialisten vor rund 100 Jahren? Steht die Demokratie an einem Kipppunkt?

Ich mache mir Sorgen, dass der Kipppunkt erreicht sein könnte. Die AfD, die das Land spalten will und das demokratische System bewusst in Frage stellt, sitzt in Parlamenten. Es gibt junge Leute, die sich fragen, ob sie deswegen das Land oder ihre Heimatregion verlassen. Das nehme ich sehr ernst. Wir haben die historische Erfahrung, was passieren kann. Wir dürfen nicht in den Populismus einstimmen und müssen der AfD-Erzählung widersprechen, dass nur Chaos herrscht. So ist es nicht. Wir verabreden Regeln und haben so unter anderem eine Pandemie überstanden und einen Energiekrisen-Winter. Das Land funktioniert. Und wo es nicht funktioniert, müssen wir das ändern.